Kirchengesang
Orthodoxes Glaubensbuch - Der Kirchengesang
Wahrscheinlich ist Gesang das Erste, was jemand hört, der zufällig eine orthodoxe Kirche betritt. Der Gesang nimmt einen sehr wichtigen Platz im orthodoxen Gottesdienst ein. Er drückt – wie auch das Wort – die Gedanken des Menschen, seine Gefühle und besonders seine Stimmung aus: Freude und Kummer, Leid und Jubel, Hoffnung und Bitte um Hilfe und Schutz.
Schon von alters her wird der Gesang bei allen Völkern der Erde im Gottesdienst verwendet. Er wurde auch in der Kirche des Alten Testaments praktiziert. Christus selbst heiligte durch Sein Beispiel die Verwendung der Musik im Gebet: Als Er mit Seinen Jüngern auf den Ölberg ging, sang Er mit ihnen Psalmen. Darüber können wir im Evangelium lesen.
Auch die Apostel sangen und lehrten die anderen Christen, Gott “in Psalmen, Hymnen und Liedern, wie der Geist sie eingibt”, zu verherrlichen.
Schon in apostolischer Zeit hatte der Gesang seine eigene Form und Ordnung. Nicht umsonst zählt der heilige Apostel Paulus die Arten der frühchristlichen Lieder auf: Psalmen, Gesänge (oder Hymnen) und geistliche Lieder. Daraus erwuchs der ganze Reichtum der Kirchenmusik.
Psalmen und Hymnen
Psalmen sind Abschnitte aus dem heiligen Buch der Psalmen. Sie werden sehr oft während des Gottesdienstes gelesen, manchmal auch gesungen.
Hymnen sind die neun biblischen Oden, die auf die wichtigsten Ereignisse der Heilsgeschichte Bezug nehmen:
1.) Der Gesang nach dem Durchzug des erwählten Volkes durch das Rote Meer und nach der Befreiung von den Verfolgern nach dem Auszug aus Ägypten
2.) Der anklagende Gesang des Mose vor seinem Tod
3.) Der Gesang Hannas, der Mutter des Propheten Samuel
4.) Der Gesang des Propheten Habakuk
5.) Der Gesang des Propheten Jesaja
6.) Der Gesang des Propheten Jona
7.) Der Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen (1)
8.) Der Gesang der drei Jünglinge im Feuerofen (2)
9.) Der Gesang der Gottesmutter
Das Gebet des Zacharias
Diese Oden sind deshalb wichtig, weil nach ihrem Muster im orthodoxen Gottesdienst die Kanon-Hymnen der Matutin aufgebaut sind (siehe “Der Gottesdienst”).
Geistliche Lieder
Die geistlichen Lieder sind von christlichen Poeten und Verfassern der gottesdienstlichen Texte komponiert. Sie entstanden schon in apostolischer Zeit, aber ihre Blütezeit ist die nachapostolische Zeit. Diese geistlichen Lieder stellen den großen Reichtum unserer Kirche dar und sind sehr vielfältig und zahlreich.
Viele geistliche Poeten und Schriftsteller aller Zeiten hinterließen sie uns als Erbe. Allein in der Griechischen Kirche werden von der Zeit der Apostel bis zum 18. Jahrhundert mehr als hundert bekannte Verfasser von Kirchenliedern gezählt. Wenn man die Autoren der darauffolgenden Zeit und die Autoren der anderen Landeskirchen dazu zählt, so sind es noch viel mehr.
Leider verfügen wir heutzutage nicht über genügend Nachrichten über die Anfangsperiode des Kirchengesangs; es sind nur wenige Handschriften erhalten geblieben, und die, welche vorhanden sind, sind sehr schwer zu entziffern. Vor der Erfindung des heute üblichen Notensystems lernten die Sänger in der Hauptsache voneinander. Ihre Aufzeichnungen hatten nur den Zweck, sie daran zu erinnern, was sie bei der Nachahmung der älteren Sänger beachten sollten. Deshalb können wir uns die Zusammensetzung der verschiedenen Melodien und die Bewegung der Stimmen der Sänger nur mit Mühe vorstellen und kennen sogar den Charakter der einzelnen Musikstücke nur aus Beschreibungen.
Die alten Kirchenschriftsteller meinten zum Beispiel, dass der erste Ton wichtig, erhaben und am feierlichsten ist. Er wurde mit der Sonne verglichen, und man sagte, dass er die Faulheit, Trägheit, den Schlaf, die Trauer und die Verwirrung vertreibt.
Der zweite Ton ist mit Sanftmut und Frömmigkeit erfüllt, er tröstet die Trauernden und verjagt die finsteren Gedanken.
Der dritte Ton ist stürmisch. Er ist wie das Meer bei Unwetter und gibt Anstoß zu geistlichem Tun.
Der vierte Ton hat eine doppelte Wirkung: auf der einen Seite ruft er Freude hervor, auf der anderen Trauer. Mit den ruhigen und sanften Übergängen der Töne bietet er der Seele Ruhe, flößt das Streben nach Höherem ein und drückt am treffendsten die Wirkung der Gnade Gottes auf uns aus.
Der fünfte Ton beruhigt die Aufregungen der Seele, er eignet sich für das Beweinen der Sünden.
Der sechste Ton erweckt fromme Gefühle, Hingabe, Menschlichkeit und Liebe.
Der siebente Ton ist sanft, ergreifend, ermahnend. Er überzeugt zärtlich und bittet um Erbarmen.
Der achte Ton drückt den Glauben an das künftige Leben aus, betrachtet die himmlischen Geheimnisse und bittet um Glückseligkeit.
Die Melodien änderten sich mit der Zeit. Wir dürfen natürlich nicht meinen, dass wir beim Gesang dieselben Tonarten verwenden, wie die Griechische Kirche vor Hunderten von Jahren. Das Wichtigste ist, dass die gottesdienstliche Ordnung der Gesänge mit ihrer wiederkehrenden Abfolge festgelegter kirchlicher Melodien gleich bleibt.
Um wenigstens teilweise die Grundlagen des Aufbaus des griechischen Gesanges zu verstehen, die sich sowohl im byzantinischen als auch im russischen Kirchengesang der folgenden Zeit widerspiegeln, wollen wir Folgendes anmerken.
Die alten Griechen drückten ihre Gefühle in der Musik auf drei Arten aus: auf die diatonische, die chromatische und die enharmonische Art. Sie unterschieden sich durch die Intervalle zwischen den Stufen der Tonleiter.
Wenn Ganztöne vorherrschten (mit einem Halbton), so hieß die Stimmung diatonisch (sie ist am einfachsten und am leichtesten aufzunehmen).
Wenn Halbtöne vorherrschten, so hieß die Stimmung chromatisch (schwieriger).
Schließlich gab es eine Stimmung, in der Viertel-Ton-Intervalle vorherrschten. Sie hieß enharmonisch und war die schwierigste.
Um den Gesang zu erlernen und sich zu merken, schlossen die alten Griechen die Bewegungen der Tonwellen in gewisse Rahmen oder Grenzen ein, die Tetrachorde (Vierklänge) genannt wurden. Solcher Tetrachorde gab es drei:
Den lydischen – wenn sich der Halbton am oberen Ende des Tetrachordes befand:
g + 1 Ton = a + 1 Ton = h + ½ Ton = c.
Den phrygischen – der Halbton befand sich in der Mitte des Tetrachordes: a + 1 Ton = h + ½ Ton = c + 1 Ton = d.
Den dorischen – der Halbton befand sich am unteren Ende des Tetrachordes: h + ½ Ton = c + 1 Ton = d + 1 Ton = e.
Mit der Zeit vergrößerte sich die Tonleiter und wurde durch die verschiedene Kombination von zwei Tetrachorden komplizierter. Das Resultat einer solchen Kombination hieß Tonart, die einer heutigen Tonleiter sehr ähnlich war. Die zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten der Tetrachorde ergaben eine große Anzahl von Tonarten oder Tonleitern.
Die Vielfalt der griechischen Melodien und Tonarten erschwerte nicht nur ihre Anwendung beim Gottesdienst in der Kirche, mit ihrer Kompliziertheit fügte sie manchmal dem Gottesdienst sogar Schaden zu.
Deshalb wählten im Westen der heilige Ambrosius von Mailand und danach der heilige Papst Gregor der Große und im Osten der heilige Johannes Chrysostomos und vor allem der heilige Johannes von Damaskus aus der Vielzahl der existierenden Tonarten und Gesänge acht aus, die am geeignetsten waren und den gottesdienstlichen Erfordernissen am besten entsprachen. Mit ihrer schriftlichen Fixierung begründeten sie die acht kirchlichen Töne. So entstanden die Kirchentöne.
Die Grundlage des ersten Tones war die phrygische Tonart.
Die des zweiten Tones – die lydische.
Die des dritten Tones – die mixolydische.
Die des vierten Tones – die dorische.
Die des fünften Tones – die hypophrygische.
Die des sechsten Tones – die hypolydische.
Die des siebenten Tones – die hypomixolydische.
Die des achten Tones – die hypodorische.
Der heilige Johannes von Damaskus ordnete die Gesangsmelodien und brachte sie in ein System und verfasste ein Notenwerk als Hilfe für den Gottesdienst. Es entstanden acht Melodien oder Töne, mit deren Hilfe man die kirchliche Poesie, Psalmen und Hymnen musikalisch gestaltete.
Das Buch, das der heilige Johannes von Damaskus geschrieben hat, heißt Oktoëchos oder in der Übersetzung “Das Buch der acht Töne”.
Die Russische Orthodoxe Kirche übernahm das System des Achttongesangs zusammen mit der Glaubenslehre und dem Gottesdienst aus Byzanz. Jeder Ton wird im Laufe einer Woche im Gottesdienst verwendet und danach vom nächst folgenden abgelöst. Wenn die Woche des letzten – achten – Tones endet, beginnt wieder der erste Ton.
Es muss angemerkt werden, dass für den Gottesdienst nicht nur der Oktoëchos, sondern auch andere gottesdienstliche Bücher verwendet werden, z. B. das Menaion. Die Stichera für die Heiligen oder Feste, die in diesen Büchern enthalten sind, werden in eigenen Tönen gesungen. Deshalb können in einem Gottesdienst Gesänge in verschiedenen Tönen erklingen.
In späteren Zeiten, besonders im Laufe des XIX. Jahrhunderts, verfasste in Russland eine Reihe berühmter Komponisten eigene kirchenmusikalische Werke, die auch heute noch in den Kirchen zu hören sind. Eine solche Vielfalt und musikalische Vollendung wie in Russland hatte der Gottesdienst vorher noch nie erreicht. Zur Liste der bekannten Kirchenkomponisten Bortnjanskij, Turčaninov, L’vovskij, Archangel’skij, Kastal’skij, Česnokov, Grečaninov und vieler anderer kann man auch die Namen von Čajkovskij, Rimskij-Korsakov und Rachmaninov hinzufügen, die ebenfalls sehr viel auf dem Gebiet der geistlichen Musik geleistet haben. Es gibt keinen Gesang der Liturgie, aber auch keinen wichtigen gleichbleibenden Gesang der Nachtwache, der nicht in erhabenen oder einfachen, jauchzenden oder traurigen Melodien erklingen könnte. Alle diese Gesänge vereinigen sich im Gottesdienst zu einer einzigen Hymne an den Schöpfer.
Die Kirchenmusik gibt dem ganzen Gottesdienst seine endgültige, harmonische Form. Das musikalisch Gott dargebrachte Gebet ist der erhabenste Gottesdienst. Deshalb ist das gesamte kirchliche Leben von Gesängen durchdrungen, sowohl in der Kirche als auch zu Hause.
Die Orthodoxe Kirche verwendet nur die Musik der menschlichen Stimme. Im orthodoxen Gottesdienst sind keine Instrumente zulässig.
Das Typikon des orthodoxen Gottesdienstes schreibt streng vor, welche Texte gesungen und welche gelesen werden. Darüber hinaus ist auch die Art des Gesanges vorgeschrieben, Solo (selten) oder Chor.
Chöre
Die Grundlage der Kirchenmusik ist der Chor. Es gibt verschiedene Chöre. Gemischte Chöre bestehen aus Männern und Frauen aller Altersstufen. In den Klöstern werden je nach Gegebenheit Männer- oder Frauenchöre gebildet. Es gibt auch Kinderchöre. Es gibt Duette, Trios, Quartette, aber am verbreitetsten sind Chöre aus acht oder mehr Sängern.
In den Stadtpfarren gibt es manchmal mehrere Chöre: den Festtagschor, der aus Berufssängern besteht und rechter Chor (siehe “Das Kirchengebäude”) genannt wird, und einen kleineren, der als linker Chor bezeichnet wird.
In den Fastenzeiten werden die Gesänge seltener, die meisten gottesdienstlichen Texte werden gelesen. An Festtagen ist es umgekehrt, alles wird gesungen, z. B. zu Ostern.
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