Heilige Schrift
Orthodoxes Glaubensbuch - Die Heilige Schrift
Für die Christen ist die Bibel der Höhepunkt all dessen, was je geschrieben worden ist und was noch jemals durch die größten Geister der Menschheit geschaffen werden wird. Die Bibel ist das Buch der Bücher. Sie bleibt durch viele Jahrhunderte das am meisten gelesene Buch der ganzen Welt. Ihre Auflage reicht insgesamt an eine Milliarde Exemplare. In Übersetzungen gibt es die Bibel in fast siebenhundert Sprachen und Dialekten.
Der Name “Bibel” selbst drückt ihre herausragende Bedeutung aus. Das Wort “Biblos” bedeutete bei den Griechen einfach nur Buch. In vergangenen Zeiten, im zweiten Jahrtausend vor Christi Geburt schufen die Phönizier in der Stadt Byblos ein Lager für Papyrus, für Bücher. Vom Namen dieser Stadt stammt auch das griechische Wort Biblos. Wissenschaften wie Geschichte, Geographie und Soziologie, aber auch die Poesie und Literatur haben vieles aus ihr geschöpft. Die gesamte europäische Kunst hat in der Bibel ihre Grundlage.
Alle Bücher des Neuen Testaments sind ohne Ausnahme kanonisch.
Die Bibel wird auch noch “Wort Gottes” genannt. Dieser Name drückt den Glauben der Kirche daran aus, dass aus der Bibel Gott selbst zu uns spricht und nicht nur einer ihrer heiligen Schreiber, die – obwohl heilig – doch nur Menschen waren. Natürlich hat Gott nicht selbst die Bibel geschrieben und sie nicht Wort für Wort diktiert. Unter der Einwirkung des Heiligen Geistes wurde der Geist der heiligen Schreiber in einem solchen Maße erleuchtet, dass sie ohne Mangel und Fehler oder Unvollkommenheit alles ausdrücken konnten, was ihnen Gott offenbarte. Sie blieben dabei Menschen, jeder mit seinen persönlichen und stilistischen Eigenheiten, mit jeweils bevorzugten Worten und Ausdrücken; jeder schrieb in seiner Sprache, aber durch sie sprach Gott selbst.
Seit der Zeit, als die Bücher der Bibel geschrieben wurden, hat sich vieles auf der Erde verändert. Manches ist für immer verschwunden, anderes hat einen wichtigen Platz im Leben eingenommen, obwohl es erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit aufgetreten ist. Für uns ist es manchmal schwierig, uns die Lebensweise der Menschen des Alten Israel vorzustellen, zu weit sind diese Menschen von uns entfernt, zeitlich und auch räumlich. Was sie schon aus Andeutungen verstanden, müssen wir erst mühsam erklären. Viele Kirchenväter hinterließen uns ihre Auslegung der Bibel. Auch wenn wir das selbstständige Bibellesen und das Nachdenken über ihre Texte nicht vernachlässigen sollen, ist es doch nützlich, sich der Schriften der Heiligen Väter zu bedienen, die uns in der Sprache und in der Zeit näher stehen und für uns deshalb auch eine besondere Verstehenshilfe bei möglichen Unklarheiten sein können.
Für diejenigen, die tiefer in den Sinn der Bibel eindringen möchten, wird es nützlich sein, sich darüber klar zu werden, zu welcher literarischen Gattung das jeweilige Buch der Bibel gehört. Poeten, Schriftsteller, Philosophen, Historiker schreiben verschieden, jeder hat einen eigenen Stil. Manchmal kann ein poetisches Werk eine Wahrheit treffender ausdrücken als ein historischer Bericht oder ein philosophischer Traktat. Doch sie erzählen auf unterschiedliche Weise von derselben Wahrheit. Die biblischen Schriftsteller hatten die sehr wichtige Aufgabe, mit irdischen, literarischen Mitteln jene nicht-irdischen, übernatürlichen Wahrheiten auszudrücken, die ihnen Gott offenbarte. Aber sie taten dies jeder auf seine Art und verwendeten dabei verschiedene Gattungen.
Zum Beispiel war im israelitischen Volk der damaligen Zeit eine Art Gleichnis beliebt, das Midrasch hieß. Es war dies eine Erzählung mit einer moralischen Belehrung am Schluss. Der Zweck eines Midrasch war nicht die genaue Wiedergabe irgendwelcher Begebenheiten; in Details konnte ein Midrasch auch ungenau sein. Für seinen Verfasser war es das Wichtigste, die tiefe ewige Wahrheit zum Ausdruck zu bringen.
Wenn man eine solche Besonderheit einiger biblischer Texte nicht beachtet, könnte man die Heilige Schrift falsch auslegen. Diesem Fehler verfallen einige Kritiker der Bibel, die sie nur von einem historischen Standpunkt aus betrachten. Deshalb ist es wichtig zu wissen, zu welcher literarischen Gattung dieser oder jener Teil der Bibel gehört. Die gesamte Bibel ist in ihrem Ganzen und in jedem ihrer Teile absolut wahr, man muss aber immer bedenken, mit welchen Mitteln die biblischen Schriftsteller diese ewige Wahrheit ausdrücken. Wenn man das beachtet, wird der Reichtum der Heiligen Schrift noch offensichtlicher.
In der Bibel finden wir: die Urgeschichte des Menschengeschlechtes im Buch Genesis; die staatliche Geschichte in den Büchern der Könige und der Makkabäer; Alltagsgleichnisse mit moralischer Zielsetzung in den Büchern Rut, Tobit, Ester; Sprüchesammlungen im Buch der Sprichwörter Salomos und im Buch Kohelet; einen philosophischen Traktat in Form eines Dramas im Buch Ijob; hohe Poesie im Hohenlied. Alle diese literarischen Gattungen sind im Alten Testament enthalten. Im Neuen Testament ist ebenfalls ein großer Stilunterschied zwischen dem vierten Evangelium nach Johannes und den ersten drei Evangelien und auch zwischen den verschiedenen Briefen zu bemerken. Und schließlich die Apokalypse oder die Offenbarung des heiligen Apostels Johannes des Theologen: dieses Werk ist – was Stil und literarische Gattung betrifft – völlig spezifisch. Um die Heilige Schrift gut zu verstehen, muss man nicht nur den Text selbst studieren, sondern auch die Umstände, unter denen dieser Text geschrieben wurde. Eine große Bedeutung hat dabei die Persönlichkeit des jeweiligen Autors. Jeder Mensch hat sein Temperament, seinen Charakter, der sich darin ausdrückt, was er schafft, sei es ein Bild, ein Gedicht, ein Roman oder ein historischer Traktat. Die psychische Struktur des Propheten Jesaja unterscheidet sich grundlegend von jener des Propheten Jeremia. Alle heiligen Schriftsteller sind Menschen, die vom Heiligen Geist erfüllt sind. Nichtsdestoweniger konnten sie nicht unberührt bleiben vom Einfluss der Menschen, mit denen sie ständigen Kontakt hatten, was sich auch in ihren Schriften ausdrückt. Es ist klar, dass der raue Bauer Amos, der Priestersohn Ezechiel und Jesaja, der zur gehobenen Gesellschaft gehörte, verschiedene Sprechweisen verwendeten.
Um die Heilige Schrift richtig zu verstehen, muss man aber auch beachten, dass die Texte, die wir lesen, eine Übersetzung sind. Die heiligen Brüder Kyrill und Method haben die Heilige Schrift ins Slawische übersetzt, die russische Übersetzung wurde erst im 19. Jahrhundert von einer großen Gruppe gelehrter Theologen fertig gestellt. Bis dahin gab es keinen russischen Text der Bibel.
Keine Übersetzung kann absolut genau sein. Gewisse Nuancen gehen verloren, und eine Übersetzung trägt immer den Stempel der Persönlichkeit des Übersetzers. Außerdem hat jede Sprache, in der die Bibel geschrieben wurde, ihren spezifischen, nur ihr eigenen Geist. Die hebräische Schriftsprache, in der ein Großteil der Bücher des Alten Testaments geschrieben wurde, die aramäische Umgangssprache und sogar die griechische Volkssprache, welche die Apostel in ihren Briefen verwendeten, haben ihre eigenen Redewendungen und besonderen Ausdrucksweisen. Es ist schwer, im Slawischen und besonders im Russischen dafür Entsprechungen zu finden.
Die biblischen Sprachen gehören zu den orientalischen Sprachen. Sie haben viele poetische Übertreibungen, die sich sehr oft bei den Völkern des Ostens finden, und eine besondere Lyrik, die für uns häufig unverständlich ist. Einige Ausdrücke bleiben, sogar wenn man sie Wort für Wort übersetzt, dem heutigen Leser unklar, obwohl sie für den damaligen Leser verständlich waren. Heute ist es in Vergessenheit geraten, dass für unsere Vorfahren das Herz und nicht der Verstand als Sitz des Denkens galt, und das Zentrum der Gefühle sich nicht im Herz, sondern in den Nieren befand. Die Erinnerung daran, dass das Horn das Symbol der Macht war, ist in unserer Zeit verschwunden. Aber wie soll man in einem solchen Fall die Wendung “Gott hat uns das Horn der Rettung erhoben” aus dem Lukasevangelium (Lk 1,69) übersetzen? Sie bedeutet nämlich, dass Gott uns einen mächtigen Retter geschickt hat.
Wir haben von den Voraussetzungen gesprochen, die für das Verstehen der Heiligen Schrift nötig sind. Das ist aber noch nicht alles. Die Bibel ist nicht nur das an uns gerichtete Wort Gottes, es ist auch noch eine Erzählung über Gott, der sich der Welt in Seinen Taten offenbart. In der Bibel hören wir nicht nur die Stimme Gottes, sondern erfahren auch über Seine Taten, die ebenfalls äußerst lehrreich sind und oft einen größeren Eindruck auf die Menschen machen als Worte. Das Ziel der Bibel ist es zu zeigen, dass die ganze menschliche Geschichte, alles, was mit uns Tag für Tag geschieht, die Erfüllung dessen ist, was uns der Heilige Geist vorhergesagt hat. Die Bibel ruft uns in Erinnerung: der Mensch ist nicht ein Spielzeug eines blinden Schicksals, wie die alten Römer oder Griechen annahmen oder es auch heute noch viele meinen. Das Leben eines jeden Menschen ist in der Hand des liebenden Gottes, von dem alles abhängt. Der Wille Gottes ist es, den Menschen zu dem einen wahren Ziel zu führen – zur Erlösung. Die Bibel, die aus dem Alten und Neuen Testament besteht, ist eine Erzählung über das Menschengeschlecht, von seiner Erschaffung durch Gott bis zu seiner Errettung durch den Herrn Jesus Christus.
Manchmal geschah es, dass sich das Wirken Gottes in der Welt nicht geheimnisvoll und im Verborgenen vollzog, sondern vehement und für alle offenbar, begleitet von Wundern. Manche dieser Wunder können mit natürlichen Erscheinungen in Verbindung stehen, wie z. B. die zehn Plagen Ägyptens. Dennoch beweisen ihr Auftreten, der Zeitpunkt und ihr riesiges Ausmaß klar, dass diese Plagen – auf den ersten Blick Naturereignisse – auf Grund des besonderen Willens Gottes eintraten. Die Wunder Christi, die in ihrer Einfachheit mit unendlicher Liebe zum Menschen erfüllt sind, haben immer auch den Sinn einer moralischen Unterweisung. Man muss sie zweifellos als Äußerung des Wohlwollens Gottes anerkennen.
Die Wunder geben jedem Menschen die Möglichkeit, das Wirken des Schöpfers und Seiner Vorsehung in der Welt zu erahnen. Aber Gott erschließt sich für den Verstand nicht nur durch Seine Wunder. Das Wirken Gottes wird in den menschlichen Seelen offenbar, indem es sie erleuchtet und auf Wegen führt, die oft schwierig und nicht geradlinig, aber doch die richtigen und einzig möglichen sind. Es ist wichtig, diese Führung Gottes in der ganzen Bibel zu verfolgen. Dann werden alle Zweifel schwinden, die oft beim Versuch der Deutung einzelner Stellen auftauchen. Alles, worüber in der Bibel erzählt wird, von der Erschaffung der Welt, die im Buch Genesis beschrieben wird, bis zum Jüngsten Gericht, über das der Apostel Johannes der Theologe in seiner Offenbarung spricht, ist die Geschichte der Welt, die durch die unaussprechliche Vorsehung Gottes zu einem guten und letztendlich nur Ihm allein bekannten Ziel geführt wird.
Es genügt nicht, die Bibel wie jedes andere Buch zu lesen. Sie ist ein heiliges Buch, und nicht zufällig lehrt uns deshalb die Kirche, mit der Bibel zu beten, indem sie aus ihr viele Textstellen in die Gottesdienste einfügt. Wir kennen das biblische Gebet “Vater unser”, das der Herr selbst Seine Jünger gelehrt hat. Mit einem biblischen Buch, dem Buch der Psalmen, beteten viele Generationen frommer Menschen, und werden auch noch alle gläubigen Christen beten, solange die Welt besteht. Es ist notwendig, die Bibel aufmerksam und mit Frömmigkeit zu lesen, und immer wieder zu ihr zurückzukehren. Jeder von uns sollte sich dabei an die Worte des Herrn an Mose erinnern: “Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden” (Ex 3,5). Für ein richtiges Verständnis der Heiligen Schrift muss man anerkennen, dass sie von Gott stammt. Dann werden wir auch unverständlich scheinende Stellen mit Seiner gnadenvollen Hilfe verstehen können.
Man sollte alles tun, um die Heilige Schrift lieb zu gewinnen. Die Liebe kann das verstehen, was der Verstand nicht begreift. Denn die Bibel lieben heißt Gott lieben.
Weblinks
- Metropolit Hilarion (Alfeev). Über die Bedeutung der Heiligen Schrift in der modernen orthodoxen Theologie. 16. September 2011
- Bibelwissenschaft, Bibelübersetzung und Konfessionalität. Artikel von Andrey Desnitsky.
- Eugene Nida: Die Geburt der Theorie der biblischen Übersetzung
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