Dionysios Areopagita
Johannes R. Nothhaas: Dionysios Areopagita - ein Neuplatoniker?
Seit die Werke des areopagitischen Dionysios im Jahre 533 auf einem Religionsgespräch in Konstantinopel in die Kirchengeschichte eintraten, hat der Streit um ihren Verfasser und ihren Inhalt nicht aufgehört und ist auch bis heute noch nicht ausgetragen. Es handelt sich bei diesem Autor um jenen wahrscheinlich syrischen Theologen des ausgehenden 6. Jahrhunderts, der mit dem Pseudonym des von Paulus bekehrten Athener Ratsherrn Dionysios seinen faszinierenden Schriften apostolische Autorität verleihen wollte. Zitierten die einen, so Thomas von Aquin und Albertus Magnus, den mysteriösen Verfasser direkt nach der Heiligen Schrift, stellte das Mittelalter ihn an die Spitze der Väter, so galt er den anderen wie Laurentius Valla, Erasmus und Luther als ein Pseudotheologe und Fälscher. Nachdem man in neuerer Zeit das Entstehen seiner Schriften nicht vor Ende des 5. Jh. geklärt hatte, bleibt dennoch die Fehde um die Inhalte seiner Schriften davon unberührt. Denn wer der Verfasser war, ist eine sekundäre Frage. Entscheidend ist, wie die Kirche den Inhalt seiner Schriften beurteilt und in welchem Maße sie diese verwertet. Der heilige Maximos Confessor hatte schon auf dem lateranischen Konzil von 649 die Rechtgläubigkeit der von Dionysios entwickelten Auffassungen vertreten und sie zur Anerkennung gebracht, und so begann ein beispielloser Einzug dieser Theologie in die Christenheit in Ost und West.
Einer der schärfsten Kritiker des Areopagiten ist kein Geringerer als Luther, der in seiner Schrift über die „Babylonische Gefangenschaft der Kirche“ meint, dessen Bücher enthielten „mehr Platonismus als Christentum“, weshalb sie einem frommen Gemüte nicht zuträglich seien. Damit sind wir beim Thema angelangt, das auch bis heute in der Theologie umstritten ist: Sind die Schriften des Theologen aus dem 6. Jahrhundert nicht doch ein christlich verhüllter Neuplatonismus?
Zur Klärung dieses Problems ist eine kurze Darstellung der Philosophie Platons sinnvoll und deren Wiederaufnahme und Erneuerung im 3. Jahrhundert n. Chr., was allgemein mit dem Namen Neuplatonismus bezeichnet wird.
Die Philosophie Platos (427-347 v. Chr.) mit ihrem Anliegen lässt sich anschaulich mit dem von ihm selbst erfunden Höhlengleichnis darstellen:
In einer Höhle liegen von Kindheit an gefesselt Menschen, die auf eine von einem Feuer erleuchtete Wand blicken. Zwischen dem Feuer und ihnen bewegen sich Menschen, deren Schatten an der Höhlenwand erscheinen. Diese Schattenrisse gelten ihnen als Wirklichkeit. Wie erstaunt sind einige dieser Gefesselten, als sie aus ihrer Lage befreit die Menschen in der Höhle nicht mehr als Schatten, sondern real wahrnehmen können. Noch größer ist für sie der Eindruck, wenn sie Menschen außerhalb der Höhle im strahlenden Sonnenlicht in den natürlichen Farben erblicken können. Eine letzte Stufe höherer Wahrnehmung ist, die Sonne als Ursache aller Farben- und Formenpracht zu erkennen.
Das Gleichnis möchte die Stufen menschlicher Erkenntnis veranschaulichen. Es geht nach Platon darum, in der Philosophie den Menschen die Augen zu öffnen für die volle Wirklichkeit, die sich nach Platon nicht in der sichtbaren Welt erschöpft. Diese bietet in ihren Gegenständen und Wesen nur die Abbilder der in einer jenseitigen Welt vorhandenen Urbilder. Nur Erkenntnis kann die Seele des Menschen befreien. Daher ist nach Platos Auffassung nur der denkende und erkennende Teil der Seele unsterblich. Der Mensch lebt also in einem Zwischenbereich. Er ist weder in der Welt der ewigen Urbilder noch in der Sphäre der wesenlosen Schattenbilder ganz zu Hause.
Die Philosophie des Neuplatonismus, deren bedeutendster Vertreter Plotin (204–270 n. Chr.) ist, hat Platos Weltbild wieder zu neuer Geltung verholfen. Platos „Ideen“, die „Urbilder“, werden bei ihm zu kosmischen Mächten. Sie vereinen sich im göttlichen Weltengrund, der ungeteilt in allen Dingen lebt, zum „Ureinen“ (griech. το έν ‚das Eine‘), das jenseits allen Begreifens ruht. Ziel des menschlichen Geistes ist es, in der kontemplativen Versenkung mit diesem „Einen“, dem Weltengrund, eins zu werden. Das Erlebnis dieser mystischen Vereinigung hat Plotin in eindringlichen Bildern geschildert: „Oft erwach ich aus dem Leibe zu mir selbst ... Dann bin ich mit der Gottheit eins geworden“.
Der Neuplatonismus wollte aber mehr sein als eine Philosophenschule. Er wollte eine Neubelebung der heidnischen Religion, um der weltumspannenden Anziehungskraft des Christentums entgegenzutreten. Der reformatorische Versuch des vom Christentum abgefallenen Kaisers Julian kam diesem Bestreben entgegen. Gegen den machtvollen Einfluss der Kirche mit ihrer Autorität wollte der Neuplatonismus eine konkurrenzfähige Konterreligion aufstellen. Eine auf göttlicher Autorität beruhende Lehre war nötig. Und so versucht man eine Korrektur des antiken philosophischen Ideals durch die Ergänzung durch einen phantastisch-transzendenten Überbau. Nur zeigt sich dabei, dass abgestorbene Religionsformen nicht willkürlich wiedererweckt und intellektmäßig angepasst werden können. Hieratische Allüren und theurgische Praktiken erscheinen allzu leicht als ein künstlicher Aufputz. So war es in Plotins System die Rückkehr des Menschen zum Höchsten, dem Ewigen und „Einen“ - wie immer er auch das göttliche Wesen genannt haben mag. Dieses höchste Wesen „strömt gleichsam über“, und seine Überfülle schafft alles andere, die Welt. Das Bestehende ist auch bei Plotin ein Abglanz oder Schatten der stufenweisen Ausstrahlung des göttlichen Wesens. Das höchste Ziel des Menschen und seine Glückseligkeit besteht darin, dass seine Seele sich mit dem Göttlichen, aus dem sie hervorgegangen ist, wieder vereine. Der Weg dahin führt über alles Denken und Bewusstsein hinaus zu einem Zustand des bewusstlosen, ekstatischen Eins-Seins mit Gott.
So hat sich der Neuplatonismus insbesondere in der Form, wie ihn der Philosoph und des Dionysios Zeitgenosse Proklus vertreten hat, in vielen Punkten dem Christentum bis zur Verwechselung genähert: im Gebet, in der Askese, in der Ekstase und in der mystischen Union. In manchen anderen Punkten mag er den christlichen Gegner sogar an Scharfsinn, Architektur und Leuchtkraft übertroffen haben. Doch der Stärke des Christentums mit seiner inzwischen ausgebildeten liturgischen Tradition, seiner Hierarchie, seiner verbindlichen Lehre und der Berufung auf eine seit dem 1. Ökumenischen Konzil von Nizäa definierte Offenbarung Gottes in der Gestalt des Kanons der Heiligen Schrift konnte auch eine religiös motivierte Philosophie nichts Gleichwertiges entgegensetzen.
Vor diesem geistigen Hintergrund erhebt sich nun die Frage: Gehört der von der Kirche heilig gesprochene Theologe Dionysios vom Ende des 6. Jahrhunderts auf die Seite des Neuplatonismus, des Proklus, aus dessen Werk er ganze Passagen übernommen hat? – Eine nähere Betrachtung der ersten Kapitel seiner Schrift: „Die Namen Gottes“ soll dies klären.
Der Titel dieses Werkes enthält den Begriff „Namen“, der bei Juden und Christen eine viel tiefere Bedeutung hatte als die Bezeichnung eines Menschen. „Namen sind Schall und Rauch“, diese Auffassung, ein Produkt der Aufklärung, ist meilenweit von dem Namensverständnis der Antike und des Alten Testaments entfernt. Dieses verbindet mit dem Aussprechen des Namens Gottes seine Zuwendung, seine Gegenwart. Aus Ehrfurcht vor der Person Gottes, wird daher in Israel der Name Gottes im Gottesdienst nicht ausgesprochen, sondern durch das Wort adonaj ‚Herr‘ ersetzt. So bezeichnet der Name die Person in zweifacher Weise:
1. der Bezeichnete ist gegenwärtig,
2. seine Gegenwart im Namen ist unsichtbar.
Mit dem Namen ist die Zugänglichkeit und die Unzugänglichkeit der Person Gottes erfasst.
Das Kriterium seiner Aussagen bindet Dionysios nicht an „Menschenvernunft“, sondern an „die Offenbarungen des Heiligen Geistes, der die Verfasser dieser Schriften (sc. des Kanons) erleuchtete“ (585 B). Derjenige, der so die Heilige Schrift benutzt, ist kein Gelehrter oder Philosoph. Hier spricht ein Christ. Er ist der vom Geist Erleuchtete, der ihn „ohne viele Worte und ohne viel Wissen dem Unsagbaren und Unkennbaren näher zu bringen“ vermag. Schon in diesem Satz begegnet uns ein unüberbrückbarer Gegensatz. Das „Unsagbare und Unkennbare“ einerseits und andrerseits das „Näherbringen“. Wie soll das gehen, etwas zu erkennen, was unkennbar ist, „das jedes Fassungsvermögen unsres Verstandes und Willens übersteigt“? Zu erkennen gibt es da nichts! Es fällt hier ein anderes Wort, das an die Stelle von „erkennen“ tritt: (das Unkennbare!), „dem wir uns nur einen können“. Das „Erkennen“ ist durch das winzige Wort „nur“ ausgeschlossen. Dies ist die entscheidende Aussage in diesem Abschnitt, sozusagen die Thematik der Schrift. „Einen“ statt „erkennen“. Nun geht es dem Neuplatoniker auch um Vereinigung mit dem Göttlichen, die Vereinigung durch Erkenntnis, durch Ekstase. Diese aber kann bei Dionysios nicht gemeint sein, wenn er sich vorher auf die Offenbarung Gottes durch den Heiligen Geist in der Schrift beruft. So kann nur ein Christ reden. Ein deutlicher Gegensatz! Wo die Philosophen Erkenntnis suchen, und sei es in ekstatischer Praxis, da setzt der Christ Dionysios das „Einen“, die Vereinigung mit Gott, die im Sinne der Heiligen Schrift nur sakramental gemeint sein kann.
Mit diesem Wort der Tat ist der Kampf gegen den Neuplatonismus und gegen alle Philosophie wie mit einem Paukenschlag eröffnet. Denn gerade das Wort „Einung“ mit dem Göttlichen ist auch für den Neuplatoniker der höchste „theologische“ Begriff, das Ziel und der Sinn des menschlichen Lebens. Und Dionysios hat die Chuzpe, gerade dieses Wort für das Christentum zu beanspruchen.
Die „Einung“ mit Gott ist jedoch an eine Bedingung geknüpft: „wenn unsre Hingabe ebenso unendlich ist wie seine Gnade“ (585 B). – Wie kann dies verstanden werden, die Hingabe an das „Unkennbare“. Wie soll Hingabe erbracht werden, wenn es keine Orientierung dafür gibt?
Sie kann nur geschehen, wenn Gottes Gnade waltet. Seine Gnade und unsre Hingabe sind in einem nicht analysierbaren Zusammenhang gestellt. Gottes Wirken im Verborgenen ist ein Mysterium.
Der Mensch kann von sich aus nichts von Gott erfassen:
„Es ist überhaupt für uns ein Grundgesetz, dass wir über das Unfasslich-Allumfassende und Unaussprechlich-Geheime der Gottheit nichts anderes aussagen oder auch nur zu denken wagen, als was von Gott selbst in den Heiligen Schriften uns offenbart wird“ (588 A).
Wir können über Gott keine Aussagen machen, ja nicht einmal richtig über ihn denken. Nur, weil Gott sich in der Heiligen Schrift offenbart hat, können wir von ihm reden und Zeugnis geben. Wiederum ist hier das Reden und Denken von, bzw. über Gott an Seine Offenbarung in der Heiligen Schrift gebunden. Nicht Erkenntnis, Versenkung oder Ekstase, sondern seine Offenbarung verbinden uns mit ihm.
„Denn Ziel und Gegenstand unseres Suchens ist ja gerade dieses Unkennbare der Gottheit, erhaben über jedes Wissen und Verstehen, erhaben auch über Nichtwissen, erhaben über Sein, Werden, Wesen ...“ (588 A)
Die Vereinbarkeit von „Ziel und Gegenstand unsres Suchens“ mit dem „Unkennbaren der Gottheit“ ist nur möglich, wenn Gott aus seiner Unkennbarkeit heraus auf den Menschen zugeht. So kann man nur reden, wenn Gott kein abstraktes Es oder „Eines“ ist, sondern Person. Philosophisches Denken bleibt bei diesem Gegenüber in unkontrollierbaren und instinktfremden Abstraktionen hängen. Der Christ hingegen tritt an dieser Stelle in einen Dialog mit Gott als Person.
Da dieser Dialog möglich ist, schreibt Dionysios: „Darum soll unser Suchen auch beim Wesenhaft-Umgrenzten sich nicht bescheiden – und doch dürfen wir unsere Augen zum Unzugänglichen nur emporheben ...“ - weil Gott auf uns zukommt: „soweit ein Strahl der göttlichen Erleuchtung selbst es ist, der aus den Schriften in uns herüberdringt“. Die Philosophie hat kein personales Gegenüber im Jenseits, sie trifft in der Versenkung dort nur das, was der Mensch sich selbst als Göttliches ausdenkt.
Zum vierten Male folgt in diesem ersten Abschnitt des ersten Kapitels der Hinweis, dass sich das Göttliche uns nur enthüllt, wenn wir uns „von den heiligen und durchaus wahrhaften Lehren der Heiligen Schriften uns leiten lassen“. Dieses „Sich Enthüllen“ Gottes geschieht in „liebender Schonung unsrer Unzulänglichkeiten“ (588 B Ende). Die Güte Gottes „hüllt sich für uns in das Gewand des Messbaren, stellt sich für uns im Endlichen dar.“ Um aber jedem Missverständnis der Nähe Gottes in seinem Sich-Herabneigen vorzubeugen, betont Dionysios im Anschluss wieder die Distanz zwischen Gott und dem Menschen:
„So wie ... das Einfache dem Gegliederten, das Unbildliche dem Bildlichen unerreichbar bleibt, das Unkörperliche dem Körperlichen unbekannt ist, das Umfassende im Gestalteten nie endgültig zu gestalten wäre, ebenso wahrhaft ... reicht das Unendliche über alles Wesen hinaus, entzieht sich das Unbegrenzte dem Seienden ...“ (588 B). Diese Distanz des Menschen zu dem „Einen“, dem höchsten Wert der neuplatonischen Philosophie, wird noch einmal betont und für den Logos, was eine Umschreibung für den Gottessohn ist, festgehalten: „Es ist über alles Endliche so erhaben, dass es nur selbst über sich selbst Auskunft geben kann“ (588 B Ende).
Der zweite Abschnitt des 1. Kapitels beginnt mit zahlreichen Aussagen über die Unzugänglichkeit der Gottheit, die „dem Geschaffenen stets entrückt“ ist (588 C). Als Gegenaussage folgt darauf sogleich: „Und dennoch – das Gute ist wahrhaftig nicht unmittelbar: es kann durch endliche Wesen anderen endlichen Wesen weitergegeben werden“ (588 C gegen Ende).
Die gegensätzlichen Aussagen dieses Abschnitts sind kennzeichnend für die Theologie des Areopagiten. Da steht auf der einen Seite die absolute Unzugänglichkeit Gottes im unvereinbaren Widerspruch zur Aussage, dass Gott „nicht unmittelbar“ ist und sogar „durch endliche Wesen an andere endliche Wesen weitergegeben werden kann.“ Beide Feststellungen sind die beiden stets parallel laufenden Denkweisen in der Theologie der östlichen und orientalischen Christenheit:
Die negative Theologie lässt den Menschen vor Gott verstummen, weil er nichts von Ihm weiß und wissen kann. Jeder Anlauf auf Gott hin scheitert an der absolut undurchdringlichen schwarzen Wolke, die dem Menschen den Zugang versperrt. Allein von dieser Voraussetzung her gäbe es keinen Glauben. - Dass Menschen dennoch an Gott glauben und zu ihm beten können, liegt daran, dass Gott vom Jenseits her die schwarze Wolke durchdringt und so den Menschen die Begegnung mit Ihm ermöglicht. Aus dieser folgt dann, dass der Mensch ein Zeugnis über dieses Geschehen ablegen kann, das positive Theologie genannt wird. Aber auch in der Begegnung des Menschen mit dem sich offenbarenden Gott, ist Er verborgen und unbegreiflich. Gott nach seinem Wesen bleibt nach wie vor unzugänglich. Wenn Er dem Menschen begegnet, sich ihm offenbart, dann in Gestalt seiner Energien, wie es der heilige Gregor Palamas formuliert hat. Er begegnet dem Menschen in einer Form, die diesen nicht vernichtet, was bei einer Begegnung mit seinem Wesen geschehen würde. – Genau diesen Sachverhalt schildert Dionysios im 2. Abschnitt des 1. Kapitels seiner Schrift über die Namen Gottes. Gott „lässt den Strahl hervorleuchten, ... und in seiner Güte verwandelt er diesen Strahl in natürlichen Glanz, welcher den einzelnen endlichen Wesen entspricht.“ (588 C Ende)
So weit kommt Gott den Menschen entgegen und nähert sich ihnen in einer ihnen verträglichen Art. Ja, Er nähert sich ihnen nicht nur, sondern holt sie auch noch zu sich heran: Er „hebt die vom Heiligen Geist Getroffenen nach ihrer Möglichkeit zu sich empor, gewährt ihnen eine Schau seines Abglanzes, schenkt ihnen Gemeinschaft mit diesem Abglanz und leitet sie an, ihn möglichst nachzubilden. So wird geheiligten Geistern auf erlaubte und heilige Weise eine Berührung des Unendlichen zuteil ...“ (588 D)
War im 2. Abschnitt dieses Kapitels von der Initiative Gottes bei der Begegnung mit dem Menschen die Rede, so wird jetzt im 3. Abschnitt von der Initiative des gläubigen Menschen gehandelt. „Wir wollen das über Verstand und Wesen Erhabene und Verborgene der Urgottheit ehren durch bescheidenes Schweigen vor dem Unaussprechlichen und mit heiligen, auf volle Erforschung verzichtenden Akten der Ehrfurcht“ (589 A Ende). Hat im 2. Abschnitt Gott uns zu sich erhoben, so schildert jetzt der 3. Abschnitt, wie sich die Menschen zu Gott erheben: „So erheben wir uns zu den aus der Heiligen Schrift auf uns hernieder-leuchtenden Lichtstrahlen. ... Es ist ein überweltliches Licht, mit welchem wir da erfüllt werden, von jenseits des Alls kommend, ... verwandelt es uns.“ Auch der Mensch ist in der Begegnung mit Gott gefordert:
- zum Schweigen,
- seinen Forscherdrang einzuschränken,
- Gott in der Schrift zu suchen (588 B).
War bisher von Gott immer nur in einer abstrakten Form die Rede mit Ausdrücken wie das Gute, die Urgottheit, der Urgrund, so ändert sich jetzt die Ausdrucksweise. Gott wird jetzt als Person angeredet: „so dürfen wir ... Ihm danken, dass Er selbst es über sich selbst in den Heiligen Schriften uns hat vermitteln wollen“ (589 B Mitte).
Im Folgenden ist dann die Rede von Unheiligen, Gefallenen, von Heiligen, für die Gott als Person der Retter und Helfer ist. Gott ist nicht mehr als ein Abstraktum erwähnt, sondern als „Er“, als in Person Handelnder. Die Gedankenführung des Abschnitts spitzt sich jedoch noch weiter zu, wenn es da heißt: „Er ist die innere Einfachheit, und die innere Einheit für alle, denen bis zum Einen vorzudringen verstattet ist“ (589 C). An dieser Stelle wird ganz deutlich wie sich der Christ Dionysios gegen den Neuplatonismus abgrenzt. Nicht „das Eine – die Einheit – die Einfachheit“ diese abstrakten Begrifflichkeiten, sind das letzte und höchste Gut, sondern Er, der Gott der Christen, Er, der personale Gott, mit dem wir reden können, der sich uns Menschen in klaren Worten offenbart: „So ist Er auch gütige Mitteilung des Verborgenen ... ohne entheiligt zu werden.“ (589 C Ende) Hier bezeugt Dionysios:
Der lebendige, personale Gott kann nicht durch nichtpersonale Gedankengebilde ersetzt werden. Für den Christen ist der höchste Wert die Person.
Die entscheidende Aussage dieser Darlegung ist, dass wahre Einung nur mit einer Person geschehen kann, nicht mit Begriffen, und zwar nur durch eine Offenbarung von Gott her.
Erstveröffentlichung und Urheberrecht
Priester Johannes R. Nothhaas, Orthodoxe Gemeinde des Hl. Christophorus, Mainz. Bei Fragen an den Autor zum Artikel und dem orthodoxen Glauben: nothhaas@googlemail.com.
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Johannes R. Nothhaas: Dionysios Areopagita und Thomas von Aquin
Nachdem das Christentum durch Konstantin den Großen von der Verfolgung befreit und von der „geduldeten Religion“ in eine privilegierte Position avanciert war, begann die Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie relevant zu werden. Waren die christlichen Katechetenschulen des 2. Jahrhunderts in ausgesprochenem Gegensatz zu den heidnischen Bildungsanstalten gegründet worden, so verfolgten sie jetzt einen direkt apologetischen Zweck, nämlich die Heiden für das Christentum zu gewinnen. Lebten Philosophie und Christentum zunächst noch in friedlicher Koexistenz neben einander, so geriet die Philosophie im Laufe der Zeit zunehmend in Bedrängnis sowohl durch die staatliche Politik, als auch durch die Umwertung der philosophischen Denkformen. Die christlichen Theologen verwendeten oft die zentralen Begriffe der Philosophen, nur jetzt mit christlichen Inhalten umgeprägt als Waffen gegen ihre Urheber. In diese Reihe der „Entmythologisierer“ der heidnischen Philosophie und ihrer religiösen Vorstellungen gehört im ausgehenden 6. Jahrhundert Dionysios Areopagita, hinter dessen Pseudonym sich wohl ein syrischer Theologe oder Bischof verbirgt. Zu seiner Zeit war es der Neuplatonismus, der der philosophischen Weltsicht einen religiösen Überbau aufzusetzen versuchte, um dem Einfluss des Christentums eine heidnische Konterreligion entgegenzustellen.
Dionysios ist der gefährlichste Gegner dieses Unternehmens. Er unterwandert die entscheidenden philosophischen Begriffe des Neuplatonismus, höhlt sie aus, füllt sie mit christlichen Inhalten und schlägt seine Gegner in den eigenen Bastionen. Wie sieht diese Taktik real aus?
Die Vielfalt der Auffassungen in der Philosophie versuchte der Neuplatonismus auf einen Punkt zu konzentrieren, indem er die Spitze der menschlichen Erkenntnis in ein Jenseits verlegte. Die Fülle der Erscheinungen ist dort vereint in dem „Einen“, einem unpersönlichen Begriff, mit dem sich zu vereinen höchste Sinnerfüllung bot. Diese war nur zu erlangen durch Ekstase, oder Kontemplation oder rituelle Praktiken, die den Neuplatonismus mit einem religiösen Mantel umgaben. Es war der Versuch der Philosophie, sich mit einer quasiliturgischen Form eine Verbindlichkeit zu verleihen, um die man das Christentum beneiden musste.
Dionysios übernimmt die philosophischen Begriffshülsen der „Unerkennbarkeit“ des jenseitigen Ziels und der Erfüllung in der „Vereinigung“ mit dem „Einen“. Auch für ihn ist die Gottheit absolut unerkennbar. Doch im Gegensatz zum Neuplatonismus wartet auf den Menschen im Jenseits kein unpersönliches „Es“, ein unvorstellbares Abstraktum, sondern Gott als Person, wenn auch unerkennbar, so doch als Person. Da der Mensch jedoch bei allem Reden, Denken und Sich-Annähern durch eine unüberbrückbare Kluft von Ihm getrennt ist, wäre der Mensch mit seiner Gottsuche absolut gescheitert. Diese Voraussetzung im Denken des Kirchenvaters ist ein wesentlicher Bestandteil seiner Theologie, apophatische oder negative Theologie genannt. Der Mensch wäre gescheitert, wenn nicht Gott von jenseits dieser Kluft sich den Menschen offenbarte und erschienen wäre in der Menschwerdung seines Sohnes. Das Eintreten Gottes in die Geschichte ist der andere Bestandteil seiner Theologie, die kataphatische, d.h. positive Theologie, genannt. Wladimir Lossky, der orthodoxe Theologe, hat diese Verbindung der beiden Theologien zusammengefasst:
„Die Theologie der Verneinung ist nicht eine Theorie der Ekstase im eigentlichen Sinn, sondern sie ist der Ausdruck einer Grundhaltung, die aus der Theologie im allgemeinen eine Kontemplation der Offenbarungsmysterien macht....
Der Apophatismus, die Theologie der Verneinung lehrt uns vielmehr, in allen Dogmen der Kirche vor allem einen negativen Sinn zu sehen; er ist ein Verbot für unser Denken, seine gewohnten Wege zu gehen und über Gott und seine Mysterien rationale Begriffe zu bilden, die sich an die Stelle geistlicher Wirklichkeiten setzen könnten. Das Christentum ist keine philosophische Schule, die über abstrakte Begriffe spekuliert, sondern vor allem Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott schaffen will. Darum blieben die Väter der östlichen Tradition, trotz ihrer philosophischen Bildung und ihrer natürlichen Neigung zur Spekulation, dem apophatischen Prinzip der Theologie treu; so konnten sie mit ihrem Denken an der Schwelle des Mysteriums halt machen und blieben davor bewahrt, Idole des Denkens an die Stelle der Wirklichkeit Gottes zu setzen.“ (Wladimir Lossky, Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche, Wien 1961, 54f. )
Diese Art der Theologie in der östlichen Christenheit fand ihren angemessenen Vollzug im Hesychasmus und bis heute im orthodoxen Mönchtum in der Praxis des Herzensgebetes.
Sie steht in einem entscheidenden Punkt in direktem Gegensatz zur Theologie des Thomas von Aquin. Diese stellt eine Auflehnung dar gegen die augustinisch-kluniazensische Lehre von der Minderwertigkeit des Natürlichen, gegen die daraus folgende Weltverachtung. Die durch die Kreuzzüge ins Abendland verbrachten unbekannten Schriften des griechischen Philosophen Aristoteles bewirkten einen unerwarteten Aufschwung in der abendländischen Theologie. Es war ein elementarer Ausbruch von Weltlichkeit, der in diesem frühen Aristotelismus auf den Plan trat. Das große Anliegen mit dem Einbau dieser Philosophie war, die Nähe Gottes in den uns umgebenden natürlichen Dingen, begreiflich zu machen. Der Glaube sollte, von einer negativen Weltsicht befreit, hingeführt werden zu einer positiven Annahme der Schöpfung, in der uns Gott sein Heil vermittelt. Der Vorwurf der Gegner des Thomas von Aquin war: Verweltlichung. Dieser erkannte die Gefahr, dass ein Gegensatz entstehen konnte zwischen Philosophie und Theologie, eine Aufspaltung zwischen Wissen und Glauben, die auf eine Welt der „doppelten Wahrheit“ hinausliefe. Thomas wollte weder die Philosophie und mit ihr den Aristoteles absolut setzen, noch ein ausschließlich supranaturalistisches Weltbild akzeptieren. Einerseits habe der Mensch eine gewisse natürliche Fähigkeit, Gott zu erkennen, andrerseits bedürfe er der übernatürlichen Gnade, für die der Vernunft unzugänglichen Glaubensartikel. Er bejahte die natürliche Weltwirklichkeit, weil sie als Schöpfung einen Zugang zu Gott geben könne.
Genau an dieser Stelle erhebt sich die Schwierigkeit. Der Erweis des Schöpfers von der Schöpfung her ist ein Denkvorstoß des Menschen in das Mysterium Gottes. Thomas stellt sich in der Erkenntnislehre auf den aristotelischen Standpunkt, dass Erkenntnis über die Erfahrung dem Menschen zukomme. Von daher nimmt er eine gewisse natürliche Fähigkeit des Menschen an, auch Zugang göttliche Dinge zu erkennen. Damit steht er in direktem Widerspruch zu Dionysios. Noch so verfeinerte Definitionen und Unterscheidungen über das Wesen und die Existenz Gottes bei Thomas sind daher unvereinbar mit der negativen Theologie des Areopagiten. Aller Einsatz philosophischer Kategorien zur Annäherung an den Unfassbaren bewirken das Gegenteil. Der denkerische Rückschluss aus der materiellen Welt, auf Gott hin, trennt von der Theologie des Dionysios ganz entscheidend. Jede von Menschen erstellte Definition kann wieder durch menschliches Denken in Frage gestellt werden. Der unerkennbare Gott der negativen Theologie jedoch bleibt solchen Denkvorstößen unerreichbar und daher unangetastet. Auch der vom Himmel herabsteigende Gott der positiven Theologie bleibt in seiner Offenbarung allem menschlichen Zugriff entzogen. Die einzig mögliche Annäherung an Ihn ist die Anbetung, die Liturgie, in der Er uns umfängt, wie den Propheten Jesaja im von Weihrauch erfüllten Tempel.
Die Gefahr dieser thomistischen Denkweise wird bestätigt durch den Beitrag des Aquinaten zur eucharistischen Theologie. Der breite Horizont des Eucharistieverständnisses des ersten Jahrtausends in der östlichen Christenheit erfährt zunehmend eine Eingrenzung. Der kosmologische Aspekt des Hernieder-Fahrens des himmlischen Jerusalems in die die Eucharistie feiernde Gemeinde wird verengt auf die Frage nach der Gegenwart des Herrn und die Erklärung des eucharistischen Geschehens. Die Breite der Heilsgeschichte Gottes mit der Menschheit von der Schöpfung an bis zur Wiederkunft als in der Liturgie gegenwärtige Wirklichkeit wird reduziert auf den Abend der Einsetzung des Herrenmahles. Es ist der Mensch, der den im Mysterium verborgenen Gott mit seinen natürlichen Augen in der konsekrierten Hostie bei der Elevation schauen soll. Neben dieser optischen Fixierung des Höhepunktes der liturgischen Geschehens hat sich dann auch das akustische Zeichen des dreifachen Schellens nach dem Zitat des Einsetzungsberichtes hinzugesellt. Thomas von Aquin war maßgeblich an der Entwicklung der Elevation in der abendländischen Liturgie beteiligt und der daraus sich ergebenden Monstranzfrömmigkeit.
Dieses Novum in der Liturgie ist getragen von der guten Absicht, den Menschen die Nähe Gottes in der irdischen Materie nahe zu bringen und hatte dennoch das Gegenteil bewirkt. Denn die Teilnahme an der Eucharistie erhielt jetzt eine Alternative: das „Schauen“ der gesegneten Hostie. Diese führt jedoch von der Teilnahme am sakramentalen Leben weg. Sie ist das Gegenteil von dem, was das aus dem Griechischen stammende Wort Mysterium (lat. sacramentum) meint: das Verbinden der Augen in der Gegenwart Gottes.
Erstveröffentlichung und Urheberrecht
Priester Johannes R. Nothhaas, Orthodoxe Gemeinde des Hl. Christophorus, Mainz. Bei Fragen an den Autor zum Artikel und dem orthodoxen Glauben: nothhaas@googlemail.com.
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