Theologische Hochschule zu Chalki

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„Ausharren in der Hoffnung“ - Über das Schicksal der Theologischen Hochschule zu Chalki

Von Christoforos Papakonstantinou**

In Durchführung eines Gesetzes aus dem Jahr 1971, das eine Verstaatlichung aller privaten Hochschulen in der Türkei vorsah, wurde auch die Theologische Hochschule zu Chalki geschlossen. Das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel, dem diese Hochschule gehört, ist seitdem bemüht ihre Wiedereröffnung bei der Türkischen Regierung zu erwirken. Die Theologische Hochschule war seit ihrer Gründung im Jahr 1844 das Reservoir, aus dem das Ökumenische Patriarchat sein Personal, sowohl für die Verwaltung, vor allem aber für die leitenden kirchlichen Positionen im In-und Ausland schöpfte. Bedeutender als diese Aufgabe war jedoch die Tatsache, dass diese Hochschule in engster Zusammenarbeit mit allen Schlüsselstellen des Patriarchalhofes, Werkstatt und Garant für die Pflege, Bewahrung und Fortentwicklung der jahrhundertealten kirchlichen und theologischen Tradition war, die das Ökumenische Patriarchat im Rahmen der Gesamtorthodoxie und der christlichen Welt verkörpert. Die Schließung der Hochschule hat also bereits jetzt eine über dreißigjährige Kluft in das Fortbestehen des Ökumenischen Patriarchats hinterlassen. Die Hochschule liegt auf der gleichnamigen Insel Chalki - türkisch Heybeliada -, eine der Prinzeninseln am Marmarameer. Ursprünglich, zur byzantinischer Zeit, stand dort ein Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit, dessen Gründungsjahr zwar unbekannt ist, in Verbindung jedoch mit dem Namen des Patriarchen Photios des Großen gebracht wird. Dem theologischen und kirchenpolitischen Geist dieses großen Patriarchen fühlt sich die Hochschule nach wie vor verpflichtet und ehrt ihn als ihren Schutzpatron.

Die Theologische Hochschule zu Chalki wurde im Jahr 1844 auf Initiative des Ökumenischen Patriarchen Germanos IV. gegründet. In seiner Gründungsurkunde aus dem Jahr 1843 bezieht sich Patriarch Germanos auf den Beschluss der Synode, im Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit auf der Insel Chalki eine theologische Schule zu errichten, in der die Gottesdienste dem monastischen Ritual und der monastischen Ordnung zu folgen hätten. In einer weiteren Patriarchalurkunde aus dem Jahr 1853, in der das neu verfasste Statut der Hochschule in Kraft gesetzt wird, betont derselbe Patriarch: „Insbesondere die Katechetenschulen, die Priesterseminare und die theologischen Lehranstalten sind in die berechtigte und gottgewollte Pflicht genommen, die religiöse Bildung und das weltliche Wissen zu vertiefen und zu schützen...,um daraus ein Wohlergehen für das diesseitige, irdische Leben zu gewähren und um das künftige von Christus-Gott geschenkte Heil zu erlangen“. Die Errichtung einer theologischen Lehranstalt schien dem Ökumenischen Patriarchat aber auch aus anderen Gründen für dringlich: so z.B. die Beseitigung des Bildungsmangels beim orthodoxen Klerus oder die Bekämpfung und Eindämmung von Missionierungsaktivitäten der westlichen Kirchen sowie gefährlich erscheinende religiöse, intellektuelle Strömungen dieser Zeit. Mit derartigen Vorhaben und Visionen startete die Theologische Hochschule zu Chalki erfolgreich ihre Ausbildungstätigkeit. Ein starkes Erdbeben im Juni 1894 zerstörte jedoch einen großen Teil der Gebäude und der Rest wurde baufällig. Während der Ökumenische Patriarch eine Spendensammlungsaktion zur Wiedererrichtung der zerstörten Gebäude startete, erhielt er am 25. Februar 1895 einen Brief von Pavlos Skylitsis Stefanovik, einem Griechen aus Odessa, mit der Mitteilung, dass er alle Kosten für den Wiederaufbau der theologischen Hochschule tragen würde. Das neue Gebäude wurde am 6. Oktober 1896 eingeweiht.

In der Geschichte der Hochschule gab es zeitlich unterschiedlich lange Studiengänge. Seit 1951 folgte einem dreijährigen Gymnasialstudium ein vierjähriges Theologiestudium. Eine existentiell gefährliche Phase durchlebte die Hochschule gemeinsam mit dem Ökumenischen Patriarchat im Jahr 1923 während der Verhandlungen des Lausanner Abkommens. Dem Ökumenischen Patriarchat, das wegen seiner griechenlandfreundlichen Haltung in die Missgunst der türkischen Regierung geraten war, drohte das Verbot seines weiteren Verbleibs auf türkischem Gebiet und die Ausweisung. Auf Beharren der englischen und griechischen Unterhändler verblieb das Ökumenische Patriarchat auf türkischem Territorium, ohne jedoch im Lausanner Vertrag ausdrücklich erwähnt zu werden. Der Ökumenische Patriarch wurde nur als Oberhaut der griechischsprachigen christlichen Minderheit in der Türkei anerkannt. In diesen kritischen Jahren schrumpft die Zahl der Studierenden auf Chalki auf ein Minimum zusammen. Bis Ende der vierziger Jahre führen das Ökumenische Patriarchat sowie die Theologische Hochschule ein für die Öffentlichkeit unauffälliges Leben.

1948 dankt der amtierende Patriarch Maximos V. ab. Entgegen den geltenden staatlichen Bestimmungen, dass zum Ökumenischen Patriarchen nur ein türkischer Staatsangehöriger gewählt werden darf, wird auf nachhaltigem Wunsch der amerikanischen Regierung der Erzbischof von Nord- und Südamerika Athenagoras zum Ökumenischen Patriarchen ernannt, nachdem er von der Türkischen Regierung die türkische Staatsangehörigkeit verliehen bekam und mit der Maschine des amerikanischen Präsidenten Truman nach Istanbul eingeflogen war. Über die politisch-ideologischen Absichten dieser Handlung können nur Vermutungen angestellt werden. Die Erhebung dieses Mannes, der Absolvent der Hochschule von Chalki war, auf den patriarchalen Thron hatte wohl strategisch-politische Hintergründe. Die Kirchenpolitik war ein Teilaspekt im Kontext eines umfangreicheren Aktionsplanes der westlichen Welt, der kommunistischen Gefahr zu begegnen. Ungeachtet all dessen, ist Tatsache, dass in kürzester Zeit nach der Amtseinführung des Patriarchen Athenagoras das Ökumenische Patriarchat und die Theologische Hochschule zum neuen Leben erwachen und einen kirchlichen und theologischen Prozess in Gang setzen, der die gesamte orthodoxe Welt in Bewegung bringt und darüber hinaus den Kontakt mit den anderen christlichen Kirchen auf eine neue Grundlage stellt. Die Professoren der Theologischen Hochschule von Chalki werden von nun an noch intensiver als zuvor in die Aktivitäten des Ökumenischen Patriarchats eingebunden und bilden eine Art „Beratungsstab“ für den Patriarchen. Die seit 1923,wie erwähnt, schlummernden Kräfte des Patriarchats wurden durch die Person von Athenagoras in kurzer Zeit zum Erwachen gebracht und für die Verwirklichung konkreter Projekte - man spricht hier von Visionen- mobilisiert. Auch jene Kräfte, die sich anfänglich offen oder verdeckt gegen ihn gestellt hatten, wurden in diese Arbeiten eingebunden, denn die Pläne und die Visionen von Patriarch Athenagoras waren die Fortsetzung und die Verwirklichung bereits in der Vergangenheit begonnener Arbeit. Dazu gehört die an alle orthodoxen Kirchenoberhäupter gerichtete berühmte Enzyklika des Ökumenischen Patriarchen Ioakim III. von 1902, mit der das Interesse des Ökumenischen Patriarchats für die Vereinigung der christlichen Kräfte in der Welt und der Wunsch nach einer Zusammenarbeit zwischen den Kirchen und Konfessionen bekundet wird. Durch eine weitere Enzyklika aus dem Jahr 1920 unterbreitet derselbe Patriarch einen Plan zur Konstitution eines „Kirchenbundes“, ähnlich dem des „Völkerbundes“, um die die Christen trennenden Glaubensfragen im Rahmen einer internationalen, gesamtchristlichen Organisation zu diskutieren. Diesen Enzykliken folgte auf panorthodoxer Ebene (und nicht immer unter Beteiligung aller orthodoxen Kirchen) der Kongress von Konstantinopel von 1923, bei dem unter anderem die Einführung des reformierten Kalenders beschlossen wurde, wenn auch, wie bekannt, diesen nur wenige Kirchen übernommen haben. Die Präliminare Panorthodoxe Konferenz von Vatopedi im Jahr 1930 markierte das vorläufige Ende koordinierter innerorthodoxer Zusammenarbeit. Widrige politische Umstände und die Bedenken einiger orthodoxer Kirchen, sich auf Reformen im kirchlichen Leben einzulassen, trugen dazu bei, solche Vorhaben vorerst ruhen zu lassen. Aus den Enzyklikatexten, den Konferenzbeschlüssen, Plänen und Aktivitäten des Ökumenischen Patriarchats die auf panorthodoxe und ökumenische Verständigung und Zusammenarbeit ausgerichtet sind, ist ein Pragmatismus bei der Beurteilung und Bewältigung von akuten Problemen, die das Kirchenvolk betreffen, deutlich erkennbar. In dieser Hinsicht hat sich im Ökumenischen Patriarchat ein wichtiges Prinzip herausgebildet, dass nämlich die zwischenkirchlichen Kontakte gepflegt und intensiviert werden müssen, ohne zuvor auf eine dogmatische Einigung in Glaubensfragen beharren zu müssen. Die praktische Zusammenarbeit unter den Kirchen würde den Weg zur Wiedervereinigung eher ebnen als ein einseitiger theologischer Disput. Noch akzentuierter und für manche sogar provokativ bringt diese Haltung des Patriarchats der Metropolit von Chalkedon, Meliton, zur Sprache, wenn er sagt: „Entweder wird die Orthodoxe Kirche den Weg der inneren Erneuerung und der Einheit gehen und dadurch ihrem eigenen Überleben und dem der Menschheit dienen oder sie bleibt unbeteiligter Zuschauer des Dramas des zeitgenössischen Menschen und - befangen in einem mittelalterlichen Fanatismus und der Intoleranz - wird sie in dem Sumpf, in der Verneinung... verbleiben. Die Ära der orientalischen Glückseligkeit ist für die Orthodoxe Kirche unwiderruflich vergangen Es gibt für die Kirche keine Garantie mehr unter der Glasglocke ihrer Isolation. Das prachtvolle, byzantinische Gottesdienstzeremoniell und die liturgischen Gewänder sind letzten Endes ohne jede Bedeutung, wenn sie nicht mit einer geistlichen Verjüngung, einer kirchlichen Erneuerung und einem permanenten Kontakt mit dem öffentlichen Gefühl, den brennenden Problemen des zeitgenössischen Menschen in Verbindung stehen...“ (Zwei Reden an die Kreter, Selbstverlag 1967). Dies soll ein Beweis dafür sein, dass die Abgeschiedenheit, sei es im entlegenen Phanar, sei es auf dem Hügel von Chalki, nicht Abkehr von der Welt und den Problemen der Welt bedeutet, sondern vielmehr das Gegenteil. Denn in der Abgeschiedenheit werden die Empfindsamkeit und das Wahrnehmungsvermögen der geistlich geübten Menschen eindeutig geschärft, Signale ihrer Umgebung zu empfangen. Es handelt sich hierbei schließlich um ein uraltes, christliches asketisches Prinzip.

Die Öffnung des Ökumenischen Patriarchat zu den anderen Orthodoxen Kirchen, um sie für eine Zusammenarbeit auf panorthodoxer Ebene zusammenzuführen, beginnt mit einer Enzyklika, in der die Vorreiterrolle des Ökumenischen Patriarchats ausdrücklich hervorgehoben wird. Es beginnt sobald ein reger Besuchsaustausch unter den Kirchenoberhäuptern der einzelnen Orthodoxen autokephalen Kirchen. Die Theologische Hochschule zu Chalki gehört selbstverständlich zum Besuchsprogramm aller orthodoxen Kirchenoberhäupter, die das Ökumenische Patriarchat besuchen. Damit erleben die Studenten unmittelbar aus nächster Nähe die Realisierung der Ankündigung des Ökumenischen Patriarchen Athenogaras, der in seiner Inthronisationsrede versicherte: „Wir werden alle uns vom Herrn verliehene Kraft einsetzen, für die Stärkung und Festigung des Bandes der Liebe unter den orthodoxen autokephalen Schwesterkirchen...“. Ein besonderer Höhepunkt war der Besuch des Moskauer Patriarchen Aleksij I. 1960 im Ökumenischen Patriarchat. Mit der panorthodoxen Konferenz von Rhodos 1961 beginnt eine Ära intensiver Zusammenarbeit unter den Orthodoxen Kirchen mit dem Ziel, eine Große Synode der Orthodoxie einzuberufen.

Dem Erneuerungswillen des Ökumenischen Patriarchen Athenagoras entging auch die Theologische Hochschule zu Chalki nicht. Nach langen, intensiven Vorarbeiten wurde ein eigenständiges, zum ersten mal vom türkischen Staat bewilligtes, Statut erstellt, das das bis dahin geltende Statut von 1903 ersetzte, mit dem der Betrieb des Minderheitenschulwesens geregelt wurde. Zudem gelang es ihm, eine Einreisegenehmigung für ausländische Studenten zu erreichen, die an der Theologischen Hochschule zu Chalki Theologie studieren wollten. Somit fanden Zugang zum Studium an dieser Hochschule orthodoxe Studenten aus mehreren Ländern, wie Uganda, Äthiopien, Ägypten, Syrien, den Vereinigten Staaten von Amerika, vor allem aber aus Griechenland. Zeitweise hielten sich dort auch Theologen aus anderen Konfessionen auf. Diese Erlaubnis blieb bis zu ihrer Aufhebung durch den türkischen Staat im Jahr 1964 in Kraft. Die Studentenzahl der theologischen Abteilung, die den Schwerpunkt bildete, ging in Folge dieser Maßnahme sehr stark zurück. Ab diesem Zeitpunkt wurde verstärkt für Studenten, die türkische Staatsangehörige waren, geworben. Um dies zu erreichen wurde, im Gegensatz zu den Jahren zuvor, die Schüleraufnahmekapazität der Gymnasialabteilung stark erweitert. Auf diesem Wege rechnete man, genügend Abiturienten für das Theologiestudium zu gewinnen. Dieser Umstand veränderte das Gesamtklima der Hochschule während der letzten 3 bis 4 Jahre vor ihre Schließung, obwohl Lehrpersonal und Leitung mit dem gleichen unverminderten Eifer und Sendungsbewusstsein ihre Pflichten, und häufig viel mehr als das, erfüllten, treu dem Motto des Patriarchen Athenagoras „Wir sind wenige und wir sind unzählige“. Die theologische Hochschule zu Chalki war eine Bildungseinrichtung des Ökumenischen Patriarchats mit einer staatlich anerkannten Studienordnung. Das von ihr verliehene Diplom war selbstverständlich auf Türkisch verfasst und von einer Behörde des Bildungsministeriums unterzeichnet. Die Absolventen erhielten zusätzlich eine Patriarchalurkunde, mit der sie zum „Lehrer der Orthodoxen Theologie“ ernannt wurden. Die Theologische Hochschule zu Chalki hatte im Gegensatz zu anderen theologischen Hochschulen die Hauptaufgabe Geistliche hervorzubringen. Dieses jedoch nicht im Sinne eines Priesterseminars im engeren Sinne.

Die Hochschule wurde als Internat geführt und nahm allenfalls insgesamt 80 bis 90 Schüler und Studenten auf. Voraussetzung für den jeweils in diese Bildungseinrichtung aufzunehmenden Kandidaten war die Empfehlung seines Ortsbischofs, der dadurch eine Verantwortung gegenüber der Hochschulleitung übernahm. Somit war das Studium in dieser Einrichtung nicht jedem zugänglich. Wie bereits erwähnt, ist das Hochschulgebäude an der Stelle eines der Heiligen Dreifaltigkeit gewidmeten Klosters aus dem 8.Jahrhundert gebaut. In der Fortführung dieser Tradition bilden die Alumni dieser Einrichtung eine Klostergemeinschaft. Wichtige monastische Regeln, wie das tägliche gemeinsame Gebet, das gemeinsame Speisen begleitet von Lesungen aus Texten der Kirchenväter, die im Tagesablauf festgelegten Zeiten für Studium und Freizeit und nicht zuletzt die uniforme, einheitliche Bekleidung, fanden strikte Anwendung. Als monastische Brüderschaft unterstand die Hochschule direkt dem Ökumenischen Patriarchen, dessen Namen sie bei den Gottesdiensten kommemorierte. Der amtierende Ökumenische Patriarch Bartholomaios unterstreicht die Verbindung zwischen Ökumenischem Patriarchat und Theologischer Hochschule mit den Worten: „Das Ökumenische Patriarchat und die Theologische Hochschule zu Chalki sind zwei Institutionen, zwei geistliche Einrichtungen miteinander eng verbunden, innerlich aufeinander bezogen und sich gegenseitig beeinflussend. Es kann nicht über das Leben und die Aktivitäten des Ökumenischen Patriarchats gesprochen werden losgelöst von der 127jährigen Lehrtätigkeit der Hochschule und genauso wenig über die Theologische Hochschule zu Chalki geredet werden ohne ihre enge Verbindung mit dem Ökumenischen Patriarchat zu berücksichtigen“. Organisatorische und Verwaltungsangelegenheiten der Hochschule obliegen der Verantwortung der Synode des Ökumenischen Patriarchats und werden durch ein Kuratorium der Hochschule an sie herangetragen. Der Dekan der Hochschule, in der Regel ein hochrangiger Geistlicher, ist zugleich der Abt der Bruderschaft. Die besondere Beschaffenheit der Ausbildung in dieser Hochschule, die sich zwischen liturgischem Leben und theologischem Wissen abspielte, entsprach dem orthodoxen theologischen Prinzip, wonach die Theologie ihren Ursprung in der Liturgie, dem Werk des Volkes an Gott, hat. Anderenfalls ist sie bloße Spekulation.

Die verhältnismäßig klein gehaltene Zahl an Studenten erklärt sich nicht nur aus technischen Gründen, sondern aus der Ausbildungsform und -absicht. Nicht der unpersönliche Umgang, sondern die Fürsorge und das Interesse an der persönlichen Entwicklung jedes einzelnen Studenten, sowohl im Hinblick auf seine Charakterbildung als auch hinsichtlich seiner fachlichen Leistungen, stand im Vordergrund. Bei ungebührendem Verhalten oder schwerwiegenden Verstößen wurde diskret und unauffällig gehandelt, ohne bei den anderen Studenten den Eindruck eines Skandals hervorzurufen.

Aus all dem gewinnt man einen groben Überblick über die Geschichte dieser kirchlichen Einrichtung und einen Einblick in ihre Bestimmung, ihr Leben und ihre Bedeutung für das Ökumenische Patriarchat, die orthodoxe Welt und die Ökumene. Es bleiben die Fragen nach dem „Warum“ ihrer Schließung und dem „Wann“ ihrer Wiedereröffnung. Über beide Fragen haben bis jetzt die betroffenen Parteien, die türkische Regierung und das Ökumenische Patriarchat, kaum Einzelheiten an die Öffentlichkeit preisgegeben. Darin ist ihre Vorgehensweise übereinstimmend. Man erfährt von Anfragen und Interventionen hochrangiger Politiker aus den USA und Europa zu dieser Angelegenheit bei der Türkischen Regierung doch Näheres wird nicht bekannt. Auch über den Inhalt der Gespräche des Ökumenischen Patriarchen mit Vertretern der Türkischen Regierung ist nichts in die Öffentlichkeit durchgedrungen. War die Schließung der Hochschule bloß ein bürokratischer Akt bei der Durchführung des Gesetzes, der die Abschaffung aller privaten Hochschuleinrichtungen vorsah? Treffen vielleicht die gegen das Ökumenische Patriarchat von türkischen Publikationen erhobenen Vorwürfe zu, es habe ökumenistische Ambitionen, es arbeite subversiv gegen die Türkei und strebe danach, eine Art Vatikan zu werden? Haben vielleicht die Bemühungen des Ökumenischen Patriarchats für panorthodoxe und ökumenische Verständigung und Zusammenarbeit zu falschen Schüssen bei der türkischen Öffentlichkeit geführt? Kann wirklich die übrig gebliebene kleine Schar der griechischsprachigen Christen dem türkischen Staat gefährlich werden?

Würde man diese Behauptungen und Verdächtigungen gegen das Ökumenische Patriarchat nur einer politischen Kampagne zuschreiben, so würde man die Klugheit, die Weitsicht, die Nachhaltigkeit und den Realitätssinn türkischer Spitzenpolitiker unterschätzen. Oder sind vielleicht für die türkische Regierung die innenpolitischen Nachteile bezüglich dieser Frage größer, so dass sie den außenpolitischen Druck einfach in Kauf nimmt? Dass aus dem Ökumenischen Patriarchat und der Theologischen Hochschule keine Gefahr für den türkischen Staat ausgehen kann, ist den Politikern in der Türkei vollkommen klar. Man durfte auch kein taktisches Täuschungsmanöver hinter der Ankündigung des Ministerpräsidenten Erdoğan an die Journalisten in Brüssel vermuten, der Beschluss für die Wiedereröffnung der Theologischen Hochschule zu Chalki sei verabschiedet worden und es müsse nur noch der entsprechende gesetzliche Rahmen ausgearbeitet werden. Dies alles im Juni 2004.

Seitdem ist nichts Konkretes geschehen. Die unmittelbare Umsetzung dieser Entscheidung hätte vielleicht für die regierende Partei in der Türkei negative Folgen. Vielleicht scheint es aber der Regierung noch nicht opportun, das Pfand der Theologischen Hochschule außenpolitisch gegen eine angemessene Gegenleistung einzulösen. Das Schweigen, das in der letzten Zeit um dieses Thema herrscht, darf man positiv interpretieren und hoffen, dass es alsbald mit der Wiedereröffnung der Theologischen Hochschule zu Chalki beendet wird. Denn die 37-jährige Kluft seit ihrer Schließung hinterlässt mit jedem Jahr, das vergeht, unheilbare Risse und Wunden am Körper des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel.


    • Der Autor ist Absolvent der Hochschule von Chalki; er hat in Deutschland promoviert und war zuletzt als Lehrer für griechische Muttersprache und für griechisch-orthodoxe Religionslehre in Nordrhein-Westfalen tätig und ist Mitglied der Lehrplankommission für den orthodoxen Religionsunterricht in NRW. Bei diesem Artikel handelt es sich um eine überarbeitete Fassung eines Vortrags vom 17. Mai 2008 beim Treffen der „Gesellschaft griechischer Akademiker Nordrhein-Westfalen“ in der griechischen orthodoxen Gemeinde Hl. Andreas in Düsseldorf.

Quelle & Copyright

Orthodoxie Aktuell, Jahrgang 2009, Heft 02