Gottesmutter

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Gottesmutter oder Gottesgebärerin (griech. Θεοτόκος; russ. Богородица) ist der Ehrentitel für Jungfrau Maria, weil sie die leibliche Mutter Jesu Christi war und daher die zweite göttliche Person geboren hat.

Patriarch Daniel: Die Jungfrau Maria, die Gottesmutter, das lebendige Abbild der Kirche

Mit der Vesper dieses Abends beginnen wir den Feiertag der Geburt der Gottesmutter, an die wir jedes Jahr am 8. September gedenken. Das orthodoxe Kirchenjahr beginnt am 1. September, im Herbst, weil nach der jüdischen Tradition die Geschichte der Menschheit im Paradies zum Herbst begann, zu einer Zeit mit vielen Bäumen voller Früchten. Das Fest der Geburt der Gottesmutter wurde von der Kirche auf den achten Tag des Kirchenjahrs gelegt, weil die Zahl Acht die Ewigkeit oder das Leben ohne Ende symbolisiert.

Die Geburt der Jungfrau Maria von ihren hochbetagten Eltern Joachim und Anna, die sehr viel um ein Kind gebetet haben, ist der grundlegendste Moment der Vorbereitung darauf, dass der Ewige Sohn Gottes in der Geschichte Mensch wird, um den Tod zu besiegen und den Menschen das ewige Leben im Himmelreich zu schenken.

Diese Wahrheit wird ausgedrückt im Troparion, dem Haupthymnus dieses Festes, und zwar dem Troparion der Geburt der Gottesmutter, wenn es heißt: „Deine Geburt, Du Gottesgebärende Jungfrau, kündet der Welt von großer Freude; denn aus Dir ist die Sonne der Gerechtigkeit hervorgegangen, Christus, unser Herr. Und indem er die Verfluchung auflöst, hat er Segen geschenkt; und indem er den Tod besiegt hat, hat er uns das ewige Leben geschenkt.“<ref>Kleine Vesper, Troparion, „Mineul pe septembrie“ (Minäen des September), Bukarest 2003, S. 112.</ref>

Das Geheimnis der Allheiligen Trinität, der Allheiligen Gottesmutter und Mutter der Kirche

Zugleich sehen wir, dass im Gottesdienst der Großen Abendvesper die Gottesmutter „Tempel Christi, Gottes des Herrn, des Herrschers und Schöpfers“<ref>Stichiren von Stefan Aghiopolitos, „Mineul“, S. 113.</ref> genannt wird, wie auch „Heilige Kirche, Stätte Gottes“<ref>Stichiren von Serghie Aghiopolitos, „Mineul“, S. 116.</ref>. Und der Morgengottesdienst des 8. September zeigt, dass die Jungfrau Maria, voll der Gnade, die menschliche Person ist, welche die tiefste und stärkste Verbindung zur Allheiligen Trinität hat (vgl. Lk 1,35), weil aus ihr der Sohn Gottes menschliche Gestalt angenommen hat, nach dem Willen des ewigen Vaters und in der wirkenden Gegenwart des Heiligen Geistes: „In Dir wird das Geheimnis der Trinität gelobt und angebetet, Du Allreine, denn es hat Gott wohlgefallen, dass das Wort in Dir Wohnung nimmt und die Kraft des Höchsten Dich überschattet hat“<ref>Morgenlob, „Mineul“, S. 123; vgl. Lk 1,35.</ref>. So wird die Verbindung zwischen der Hochheiligen Trinität (Panaghia Trias) und der Hochheiligen Gottesmutter (Panaghia Theotokos) zum lebendigen Abbild des Lebens der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche, die wir im Nizäno-Konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis bekennen, unmittelbar nach dem Bekenntnis des Glaubens an Gott, den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Das Geheimnis der Hochheiligen Jungfrau Maria, der Mutter unseres Herrn Jesus Christus, wird zum mystischen Abbild der Kirche, denn die Kirche ist die Gemeinschaft aller Menschen, die durch die Heilige Taufe mit der Hochheiligen Trinität vereint sind. So ist die Jungfrau Maria, die Gottesmutter, „voll der Gnade“ und „gebenedeit unter den Frauen“ (Lk 1,28-42) das Abbild der Kirche, welche aus Gottes Segen existiert und wächst, d.h. aus „der Gnade unseres Herrn Jesus Christus und der Liebe Gottes und der Gemeinschaft des Heiligen Geistes“ (2 Kor 13, 13), wie uns der heilige Apostel Paulus lehrt. Weil die Kirche voll des Lebens und der Liebe der Hochheiligen Trinität ist, wird sie in der Heiligen Schrift auch „Volk Gottes“ (1 Petr 2,10), „Leib Christi“ (1 Kor 12,27) und „Tempel des Heiligen Geistes“ (1 Kor 6,19) genannt, und alle sakramentalen Handlungen und Gebete der Kirche werden unter Anrufung des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes vollzogen. Weil Jesus Christus, der in der Ewigkeit aus dem Vater ohne Mutter und in der Zeit durch die Mutter ohne Vater geboren wurde, das Haupt der Kirche ist, haben wir „durch Ihn (Christus) Zugang zum Vater in einem Geist.“ (Eph 2,18). Und die Allheilige Jungfrau Maria, die Gottesgebärerin, ist unsere Christus dem Herrn am nächsten stehende Fürbeterin (Oranta) und geistliche Mittlerin (Advocata), wie bei der Hochzeit von Kana (Galiläa), als Christus der Herr, der diese Familie durch Seine Gegenwart gesegnet hat, auf die Bitten Seiner Mutter hin Sein erstes Zeichen vollbracht hat, indem er Wasser in Wein verwandelt und dadurch seinen Jüngern Seine Herrlichkeit offenbart und allen Anwesenden große Freude bereitet hat (vgl. Joh 2,1-19). „Für die orthodoxe Kirche tritt die Mittlerschaft der Jungfrau und der Heiligen nicht zur Mittlerschaft Christi hinzu, sondern ist in das Innerste dieser Mittlerschaft eingeschlossen“<ref>Alexis Kniazev: „Maica Domnului in Biserica Ortodoxa“ (La Mere de Dieu dans l´Eglise Orthodoxe, Cerf, Paris, 1990), rumänische Ausgabe Humanitas, Bukarest 1998, S. 144.</ref>, d.h. die Mittlerschaft der Gottesmutter und der Heiligen verwirklicht sich in der durch die ihnen von Christus geschenkte Gnade (vgl. Joh 1,16-17).

Die neue Eva und geistliche Mutter der Christen

Die Allheilige Jungfrau Maria, die Mutter unseres Herrn Jesus Christus, erweist sich uns als „die neue Eva“ und als lebendes Abbild der Kirche Christi, wenn sie unter dem Kreuz Christi des Gekreuzigten steht, aus dessen Seite Blut und Wasser rinnen (vgl. Joh 19,34), das Symbol der Taufe und der Eucharistie als Sakramente, durch die die Christen am ewigen Leben teilhaben, das Christus Seiner Kirche schenkt.

Vor Seinem Tod am Kreuz weist Christus der Herr Seine Mutter auf Seinen Lieblingsjünger Johannes hin, wenn Er zu ihr sagt: „Frau, siehe, das ist dein Sohn!“ und zu Seinem Jünger „Siehe, das ist deine Mutter!“ (Joh 19,26-27). So wird die leibliche Mutter Christi zur geistlichen Mutter Seines geliebten Jüngers, und der geliebte Jünger wird zum geistlichen Sohn der Gottesmutter, weil er der treueste Jünger Christi war, der Christus beim letzten Abendmahl am nächsten stand (Joh 13,23-25), der Christus bis zu Seinem Tode am Kreuz gefolgt ist (vgl. Joh 19,26), und der erste, der zum Grab Christi gekommen ist am Morgen Seiner Auferstehung (vgl. Joh 20,4). Durch den „testamentarischen Willen“ Christi wird Seine Mutter zur geistlichen Mutter aller Christen, die Ihm nachfolgen, die das Sakrament der Eucharistie in aller Tiefe als Sakrament des Kreuzes und der Auferstehung Christi leben, als opferbereite Liebe und heilige Freude.

Daher befindet sich in orthodoxen Kirchen über der Ikonostase, dem Symbol der Verbindung zwischen Kirche und Himmelreich, die Ikone des Gekreuzigten Christus, zu Seiner Rechten Seine Mutter, zu Seiner Linken Johannes, Sein Lieblingsjünger. Und im Buch der Apokalypse ist die Gottesmutter als das Abbild der Kirche gegenwärtig im Himmel und auf Erden als „Braut des Bräutigams Christus“, des Lammes Gottes (vgl. Offb 19,7; 21,9).

Die heiligen Väter der Kirche glauben, dass die Seele jedes Christen und jeder Christin zugleich Jungfrau und Mutter sein kann, im Blick darauf, dass Christus der Herr die Seligpreisung Seiner Mutter, die Ihn, das Gotteswort, geboren hat, verbindet mit denen, die „das Gotteswort hören und bewahren“ (vgl. Lk 11,27-28). Die Seele ist Jungfrau, wenn sie Christus treu bleibt, und Mutter, wenn sie Tugenden gebiert durch Umsetzung der Worte oder Gebote Christi. In diesem Sinne ist die Mutter unseres Herrn Jesus Christus das Modell oder das Abbild des geistigen Lebens der Kirche, in der Christus gegenwärtig ist durch die Gnade des Heiligen Geistes (vgl. Gal 2,20; Eph 3,16-19; Kol 3,3).

Die Gottesmutter betet für uns und mit uns

Der Text aus dem Evangelium nach Lk 1,46-55 ist in der Ostkirche bekannt als Hymnus der Gottesmutter und in der Westkirche als Magnificat<ref>Sogar der Reformator Martin Luther hat in der Gottesmutter das Vorbild für demütige Gebete für die gesamte Kirche gesehen (s. Martin Luther: „Le Magnificat“, Übersetzung von Albert Greiner, Nouvelle Cité, Paris 1983).</ref>. Dieser Text ist zum Gebet der Kirche geworden, weil die Gottesmutter die Erstbetende ist und ihre Gebete das Gebet der ganzen Kirche unterstützen.

Das Evangelium zeigt uns, dass das Gebet der Allheiligen Jungfrau Maria ihre Antwort auf den Segen Gottes ist. Gott ergreift die Initiative zur Erlösung der Welt durch Seinen Sohn, Der aus der Jungfrau Maria geboren wird, nachdem diese geantwortet hat: „Siehe, ich bin des Herrn Magd; mir geschehe, wie Du gesagt hast“ (Lk 1,38).

Die Freude der Jungfrau Maria kommt aus ihrer Gemeinschaft und ihrem Zusammenwirken mit Gott. Ihre Demut als Dienerin des Willens Gottes ist die Grundlage ihres Glücks: „Meine Seele erhebt den Herrn und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, Der da mächtig ist und Dessen Name heilig ist“ (Lk 1,46-49). Demütig und zugleich voller Mut preist die Jungfrau Maria das Wirken und die Gerechtigkeit des Herrn in der Geschichte als Aufrichten der Niedrigen und Herabstoßen der Gewaltigen vom Thron: „Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen“ (Lk 1,52-53). Gleichzeitig bindet das Gebet der Jungfrau Maria den von Gott erhaltenen Segen mit dem über dem Volk Israel ausgegossenen Segen Gottes: „Gott hilft seinem Diener Israel auf wie er geredet hat zu seinen Vätern, Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit“ (Lk 1,54-55). Vom Beispiel der Allheiligen Jungfrau Maria lernt die Kirche, Gott für Sein erlösendes Wirken in der Geschichte zu verherrlichen, für die Hilfe, die sie von Ihm bekommt in der Hoffnung auf das ewige Leben. Zugleich lernt die Kirche Christi von der Allheiligen Jungfrau Maria, eine demütige Dienerin Gottes zu sein beim Werk der Erlösung der Menschen, indem sie Demut und Hoffnung vereint, geistiges Leben mit dem Durst nach sozialer Gerechtigkeit und gegenwärtigen Segen mit der zukünftigen Hoffnung. In den orthodoxen liturgischen Gesängen „Geweihter Tempel und Paradies des Wortes“ genannt (Axion, Liturgie des hl. Basileios des Großen), ist die Jungfrau Maria, die Gottesmutter, durch ihre Gebete gemeinsam mit der Kirche die Quelle der Freude und der Hoffnung, die Beschützerin der Jungfrauen und der Mütter, die Patronin der Kinder und Jugendlichen, der Beistand der Alten und der Armen, die Heilerin der Kranken und die Wegweiserin der Orientierungslosen, wie in den Hymnen und Gebeten gesagt wird, die in der orthodoxen Liturgie an sie gerichtet werden. Und die Prophezeiung der Jungfrau Maria: „Siehe, von nun werden mich selig preisen alle Kindeskinder“ (Lk 1,48) erfüllt sich in der Vielzahl der ihr geweihten Feiertage, in der Fülle der liturgischen Hymnen, der Werke der klassischen Musik wie Ave Maria, im Reichtum der Ikonen und Fresken, die das Antlitz der Jungfrau und Mutter zeigen, in der Menge der Pfarr- und Klosterkirchen sowie Kathedralen, die unter ihrem Schutzpatronat stehen.

Einige der christlichen Gründer der Europäischen Union aus Westeuropa haben sich gewünscht, dass ganz Europa selbst unter den Schutzmantel der Gottesmutter gestellt wird, die eingekleidet sein sollte in ein blaues Gewand und um sich herum zwölf strahlende Sterne tragen sollte wie im Buch der Apokalypse (12,1). Leider wurde diese schöne Idee vergessen, und die blaue Farbe, die die zwölf Sterne in ihrer Mitte trägt, wird heute in einer ausschließlich säkularisierten Perspektive interpretiert, ohne religiösen Hintergrund. Trotzdem werden die Christen Europas viel in geistiger Hinsicht gewinnen, wenn sie nicht das Geheimnis der Kirche vom Geheimnis der Jungfrau Maria, der Demütigen und Barmherzigen, trennen, sondern sie mehr anrufen in ihren Gebeten für die Einheit der Christen, für die Familie und für die Gesellschaft.

Wir beenden diese Meditation mit der Lobpreisung der heiligen Jungfrau Maria durch den Erzengel Gabriel und Elisabeth, der Mutter des heiligen Johannes des Täufers: „Sei gegrüßt, du Begnadete! Der Herr ist mit Dir! Gepriesen bist du unter den Frauen und gepriesen ist die Frucht deines Leibes.“ (Lk 1,28 und 42).

Einzelbelege

<references />

Quelle und Urheberrecht

Predigt des damaligen Metropoliten Daniel (Ciobotea), des jetzigen Patriarchen der Rumänischen Orthodoxen Kirche, zur Abendandacht vor dem Hochfest der Geburt der Gottesmutter, gehalten in der Metropolitankathedrale von Hermannstadt/Sibiu (Rumänien) während der 3. Europäischen Ökumenischen Versammlung am 7. September 2007. Veröffentlicht in: Orthodoxie Aktuell, Jahrgang 2009, Heft 10.

Ikonographie

Orthodoxes Glaubensbuch - Die Ikonographie

“Freue Dich, Du Mutter des Christengeschlechtes, die Du uns unter dem Kreuz Deines Sohnes zu Deinen Kindern gemacht hast!”, so preist die heilige Kirche die Gottesgebärerin. Sie ist die Fürsprecherin bei ihrem Sohn für alle, die um ihre Fürsprache bitten, für alle, die sie um Hilfe bitten.

Der heilige Bischof Ignatij Brjančaninov schrieb über den gnadenvollen Schutz der Allheiligen Gottesmutter, den sie über die Welt ausübt: “Als Mutter des himmlischen Königs ist sie zur Königin des Himmels geworden, zur Königin aller Engel und heiligen Menschen. Ihr wurden die besondere Macht und die hohe Aufgabe verliehen, bei Gott für die ganze Menschheit Fürsprache zu halten. Wenn die heilige Kirche sich mit Bitten an alle großen Gott wohlgefälligen Menschen, an alle Engel und Erzengel wendet, so sagt sie: Bittet Gott für uns. Nur bei der Anrede der Gottesmutter gebraucht sie die Worte: Rette uns!

Die Mutter Gottes ist die größte Fürsprecherin und Helferin aller sich um Gottes Wohlwollen mühenden Menschen, aller, welche ihr irdisches Leben dem Dienst für Gott geweiht haben. Sie ist die rasche Trösterin der Trauernden und Weinenden. Sie ist die Fürsprecherin der Büßer. Sie ist die hoffnungsfrohe Zufluchtsstätte der Sünder, die sich wieder Gott zuwenden wollen. Sie ist die barmherzige Fürsprecherin für sie vor Gott.”

Es gibt eine große Zahl von Ikonen der Allheiligen Gottesmutter, durch die sie früher und bis heute große Wunder und Gnadenzeichen gewirkt hat und noch immer wirkt. An dieser Stelle behandeln wir nur einige von ihnen.

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Johannes R. Nothhaas: Theotokos, die den Gott geboren hat

Theotokos, das ist der Ehrenname der Mutter Jesu Christi, ein Bekenntnis zur Menschwerdung des Herrn. Die Verehrung dieser Frau hat nichts anderes zum Ziel als Verkündigung des Eingangs des ewigen Gottessohnes aus dem Jenseits seines Reiches in die irdische Geschichte, die Verkündigung seines Eingangs in den Leib einer irdischen Frau. Er, der vor aller Zeit einen himmlischen Vater und in der Zeit eine irdische Mutter hat, vereint in sich Gottheit und durch seine Geburt sein Menschsein in einer Person. Diese ungeheuerliche Nähe Gottes zu den Menschen findet sich in keiner anderen Religion. Nirgendwo sonst steigt ein Gott von der Höhe seiner Herrlichkeit herab in die von Unheil geprägte menschliche Geschichte und Welt, um die Menschen wieder in die Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen. So groß ist seine Liebe zu uns, dass er diese Selbsterniedrigung auf sich nahm.

Zu diesem Abstieg in unsre Mitte hat sich Gott eine junge Frau auserkoren, die nach der jungfräulichen Zeugung durch den Heiligen Geist dem Gottessohn das Menschsein geben durfte. Sie ist der erste Mensch nach dem Sündenfall, der die leibhafte Gemeinschaft Gottes mit den Menschen am eigenen Leib erfahren durfte. Ein neues Verhältnis Gottes zu den Menschen, ein neuer Bund bricht an. Der Engel mit dem Flammenschwert vor dem Eingang des Paradieses, der von Gott beorderte Wächter, der Gott und die gefallene Menschheit trennt, wird abberufen. Gott will die Menschen jetzt wieder in seine Gemeinschaft zurückholen. Die Jungfrau, die den Gottessohn unter dem Herzen trägt, ist das neue Tor zum Paradies, weil in ihr Gottheit und Menschheit wieder vereint wurden, mit einer Nähe, wie sie selbst die Engel nicht erfahren. Einer der schönsten Lobgesänge auf die Mutter des Gottessohnes lautet:
Geehrter als die Cherubim und unvergleichlich herrlicher als die Seraphim unversehrt hast du Gott, den Logos, geboren. Dich wahrhaft Gottesgebärerin preisen wir hoch.

Diese Verehrung der Gottesgebärerin (so wird der griechische Ehrenname Theotokos ins Deutsche übersetzt) hat nichts zu tun mit einer Überhöhung oder gar Anbetung ihrer Person. Die orthodoxe Kirche unterscheidet sehr genau zwischen der nur Gott gebührenden Anbetung und der Verehrung, die ihm mit Dingen seiner Schöpfung dargebracht werden können. Aus diesem Grunde wird in der orthodoxen Tradition auch der Titel „Himmelskönigin“ nicht verwendet. Der Königstitel im Himmel kommt nur den Personen des dreieinigen Gottes zu. Im Alten Testament löst der Wille des Volkes Israel das Königtum Gottes ab (1 Sam 8,7). Christus nimmt für sich den Königstitel im Gespräch mit Pilatus an (Joh 18,37). Für den Heiligen Geist verwendet die Orthodoxe Kirche den Titel „Himmlischer König“ im gleichnamigen Gebet, mit dem jedes Tagzeitengebet beginnt. Auch gibt es keine allein stehende Darstellung der Gottesgebärerin ohne Bezug auf den Gottessohn: Entweder wird sie mit dem Kind auf dem Arm oder in Orantenhaltung zu Christus hin dargestellt. Im Gegensatz zur westlichen Christenheit spricht die Orthodoxe Kirche auch nicht von einer „Himmelfahrt Mariens“, sondern nur von ihrer „Entschlafung“. Obwohl ihre Aufnahme in den Himmel zum Glaubensgut der Kirche gehört, ist dieses nicht dogmatisch festgelegt worden. Grund dafür ist das Fehlen jeglicher Aussage der Hl. Schrift über ihr Ende. Der Ausdruck „Himmelfahrt“ gebührt allein dem Gottessohn. Auch das von Papst Pius IX. erlassene Dogma von der „Unbefleckten Empfängnis“ Mariens, wonach sie vom Augenblick der Empfängnis in ihrer Mutter Anna frei von der Erbsünde sein soll, widerspricht der orthodoxen Tradition.

Der Titel „Himmelskönigin“, ihre in der kirchlichen Kunst von Christus losgelöste Darstellung sowie dieses Dogma, all diese Zeugnisse römisch-katholischer Marienverehrung, haben die Tendenz, die Gottesgebärerin auf die Seite der erlösenden Gottheit zu stellen. Nach orthodoxer Tradition gehört sie jedoch immer auf die Seite der erlösungsbedürftigen Menschheit. Nur so kann sie als Mutter des Gottessohnes diesem sein volles Menschsein mit auf den Weg der Rettung der Menschheit verleihen. Die Väter des III. Ökumenischen Konzils zu Ephesus 431 bestanden auf der Bezeichnung Theotokos (die den Gott geboren hat) nicht, um die Mutter des Herrn unabhängig von diesem zu glorifizieren. Vielmehr sollte durch die orthodoxe Form der Marienverehrung ein Bekenntnis zur vollen Einheit von Gottheit und Menschsein in der Person Jesu Christi ausgesprochen werden.

Die orthodoxen Christen verehrten Maria nicht nur als die Theotokos, die den Gottessohn geboren hat, sondern auch als die „Allheilige“. Unter allen Geschöpfen Gottes ist sie das höchste Beispiel des Zusammenwirkens von göttlichem Heilshandeln und freiem Willen des Menschen. Gott degradiert die Menschen nicht zu willenlosen Robotern, die seinen Willen auszuführen haben. Der Adel des Menschen gegenüber allen anderen Geschöpfen auf Erden besteht darin, dass Gott sie als Personen geschaffen hat, die die Freiheit haben, sich auch gegen ihn zu entscheiden. Weder manipuliert Gott die Menschen, noch zwingt er sie zum Heil, sondern respektiert immer ihre eigene freie Zusage. So wollte er nicht ohne die Zustimmung der Jungfrau Maria Mensch werden:
„Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast“ (Lk 1,38).
Maria hätte sich weigern können; sie war nicht nur passive sondern aktive Teilnehmerin an dem Geheimnis der Menschwerdung Jesu. Wenn Christus der Neue Adam ist, dann ist Maria die Neue Eva, deren gehorsame Unterwerfung unter den Willen Gottes den Ungehorsam Evas im Paradies mit ausgeglichen hat. ‚So ist der Knoten von Evas Ungehorsam durch den Gehorsam Mariens aufgelöst worden’ (Irenäus, Adversus haeresies, 111,22,4).

In der Verehrung der Mutter des Herrn kommt eine ganz wichtige Komponente der Zugehörigkeit des Menschen zu der Zeit und Raum sprengenden Größe der Kirche. Diese erschöpft sich nicht in der Frömmigkeit des Einzelnen und in allem, was Menschen für Gott tun. Kirche ist die Gemeinschaft Gottes mit den Menschen und Engeln im Himmel und auf Erden. Ihr himmlischer Raum ist nicht der stille Ort der Einsamkeit Gottes, sondern erfüllt vom brummenden Lobgesang der himmlischen Heerscharen, der die Schwellen des Tempels zu Jerusalem bei der Theophanie Gottes zur Berufung des Propheten Jesajas erbeben ließ. Das himmlische „Stockwerk“ der Kirche ist noch umfassender. Der Hebräerrief schildert es uns mit den Worten:

„Ihr seid gekommen zu dem Berg Zion und zu der Stadt des lebendigen Gottes, dem himmlischen Jerusalem, und zu den vielen tausend Engeln, und zu der Versammlung und Gemeinde der Erstgeborenen, die im Himmel aufgeschrieben sind, und zu Gott, dem Richter über alle und zu den Geistern der vollendeten Gerechten und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus ...“ (Hebr 12,22-24)
Alle diese bilden eine große Familie unter dem göttlichen Vater, die Kirche, die durch den leiblichen Tod nicht getrennt werden kann. So ist es eine ganz natürliche Selbstverständlichkeit, dass auch die Menschen untereinander miteinander in Verbindung bleiben durch das Gebet. Als Mutter des Leben spendenden Gottessohnes wird sie in der Kirche als unermüdliche Fürbitterin und Helferin der Schwachen verehrt. Immer wieder ertönt in den orthodoxen Gottesdiensten der Ruf:
„Auf die Fürbitten der Gottesgebärerin, Erlöser, erlöse uns!“
Denn auch was sie in ihrer Fürbitte und tatkräftigen Unterstützung der Bedrängten tut, ist grundsätzlich nichts anderes, als was auch die anderen Glieder der Kirche nach Maßgabe ihres Vermögens tun und tun sollen: den Gliedern des Leibes Christi, der Kirche, durch Fürsprache zu helfen. So bezeichnen die Gebete zur Gottesgebärerin wie zu allen Heiligen nicht den Einbezug menschlicher Werkgerechtigkeit in das Heilshandeln Gottes, sondern die lebendige Einheit von himmlischer und irdischer Kirche, die sich Raum und Zeit sprengend in jeder Liturgie begegnen und berühren.

Erstveröffentlichung und Urheberrecht

Priester Johannes R. Nothhaas, Orthodoxe Gemeinde des Hl. Christophorus, Mainz. Bei Fragen an den Autor zum Artikel und dem orthodoxen Glauben: nothhaas@googlemail.com.

Artikel als Faltblatt: Datei:Theotokos.doc

Siehe auch

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